Tino «Je mehr ich mich damit auseinandersetzte, desto mehr habe auch ich versucht, mich auszuprobieren»

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Illustration von Giulia Spagnulo: Menschen treffen sich auf einer Wiese
Illustration: Giulia Spagnulo

Agostino «Tino» Mazziotta ist noch ziemlich allein, als er vor mehr als fünf Jahren damit beginnt, sich in seiner Praxis als Paar- und Sexualtherapeut intensiv mit konsensuell nichtmonogamen Beziehungen zu beschäftigen. Andere Therapeut:innen, sagt er, hätten sich wenig damit auseinandergesetzt, solche Beziehungsformen zum Teil auch exotisiert.

Auch er sei noch altmodisch ausgebildet worden. So habe er gelernt, dass in einer Ehe etwas fehlen müsse, wenn sich jemand währenddessen neu verliebe. Oder auch, dass Affären nur therapeutisch bearbeitet werden könnten, wenn der Kontakt zur aussenstehenden Person beendet sei. Mit der Realität seiner Klient:innen jedoch hatte das immer weniger zu tun: «Vor allem in den letzten fünf Jahren kamen immer mehr Paare zu mir, die sich aktiv für eine offene Beziehung entschieden haben. Oder solche, die sich neu verliebten – und trotzdem miteinander in einer glücklichen Beziehung sind.»

Heute ist der Psychologe Professor an der Fachhochschule Münster und forscht zu Fragen der Beziehungsvielfalt. Dazu bietet er Schulungen und Weiterbildungen für andere Therapeut:innen an, und auch selbst ist er weiterhin therapeutisch tätig. Er spricht von einer «systematischen Verzerrung» durch gesellschaftliche Narrative, wenn es um die Frage gelingender Liebesbeziehungen gehe. «Das sind Narrative, die wir internalisiert haben – und die zu vielen Menschen überhaupt nicht passen», sagt er. Das sei eine Erkenntnis, die sich endlich auch in der Fachwelt durchsetze; in den letzten fünf Jahren habe er einen Wandel feststellen können.

Abgeschlossen ist dieser Wandel aber noch nicht. In einer Studie über die Implikationen nichtmonogamer Beziehungen für die psychologische Beratung dokumentierte Mazziotta mehrere, vielleicht typische Erfahrungen von Patient:innen im Therapiekontext. Manchen sei etwa erzählt worden, dass eine Therapie nur dann infrage komme, wenn sie ihre Polybeziehung beenden würden. Aufgezeichnet hat er auch die Aussage einer Therapeutin, dass Polybeziehungen an sich nicht gut gehen könnten – und die Patient:innen vor allem deswegen eine Therapie beanspruchen müssten.

Andererseits berichtet der Psychologe, dass sich gerade aus der linken Szene öfter Patient:innen in seiner Praxis einfänden, die zwar unter ihren nichtmonogamen Beziehungen litten, sich aber trotzdem dafür entscheiden würden: «Weil in Kreisen der Linken die Norm etabliert wurde, dass die Monogamie als hegemoniale gesellschaftliche Beziehungsform abgelehnt werden sollte.»

Sein «aktivistisches Anliegen» sei es, Räume zu schaffen, in denen man über die vielfältigen Beziehungsmöglichkeiten sprechen könne. Und damit letztlich auch ein Bedürfnis zu erfüllen, das immer bedeutender werde. Nicht nur unter urbanen Akademiker:innen oder selbstversorgenden Hippies – auch wenn vielleicht nicht alle gesellschaftlichen Kreise ihre Beziehungen auf die gleiche Weise beschreiben.

Die ewige monogame Ehe als Prototyp einer gelungenen Beziehung, wie er aus den sechziger Jahren, der Hochzeit der Ehe, bekannt ist – dieses Ideal sei brüchiger geworden. «Wir beobachten eine Individualisierung der Beziehungen», glaubt der Psychologe, «und immer mehr Menschen, die versuchen, ihre Sexual- und Liebesbeziehungen verantwortungsvoll auszuhandeln.»

Auch Tino gehört zu dieser Gruppe. Als er sich beruflich mit der nichtmonogamen Beziehung zu beschäftigen begann, habe er sich einen solchen Entwurf für sich selbst nie vorstellen können. Aber je mehr er sich damit auseinandergesetzt habe, desto mehr habe auch er selbst versucht, sich auszuprobieren – wider die internalisierten normativen Vorstellungen der Liebesbeziehung: «Kleine Schritte gehen, die Achterbahn der Gefühle wagen.»