Sophie und Oliver «Zugegeben: Wir sind nicht die Allerspontansten»

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Illustration von Giulia Spagnulo: zwei Menschen beim Sex im Bett, unter dem Bett versteckt sich eine dritte Person
Illustration: Giulia Spagnulo

Sophie und Oliver hätten nicht gedacht, dass der Schritt von einer offenen zu einer polyamoren Beziehung derart gross sein würde. Zumal es ihnen anfänglich nicht schwerfiel, ihre Beziehung zu öffnen. Das war vor fünf Jahren, im fünften Jahr ihrer Beziehung.

Oliver, heute 37, und Sophie, 33, tasteten sich vorsichtig heran. Von den ersten Gesprächen darüber, dass Daten doch eigentlich Spass macht, bis zum ersten erlaubten Fremdgehen verging ein Jahr. Oliver genoss es zum ersten Mal in seinem Leben, sich in der Datingwelt auszutoben. Und Sophie wollte das mit diesen Apps einmal ausprobieren, die es in ihrer Singlezeit noch nicht gegeben hatte. Es läuft alles sehr unbeschwert, auch als die beiden während der Pandemie zusammenziehen. Bis Oliver vor eineinhalb Jahren Nina kennenlernt.

Oliver: «Das erste Treffen dauerte nur zwei Stunden, war aber sehr cool. Am Anfang ahnte ich nicht, dass sich da eine grössere Geschichte anbahnt.»

Sophie: «Ich habe etwas früher als du gemerkt, dass diesmal etwas anders ist. Du kamst von diesen Dates zurück und hast geleuchtet. Etwas später ist mir aufgefallen, wie viel Raum Nina plötzlich einnimmt, wie du dein Leben um sie herum organisierst.»

Oliver: «Nach etwa sechs Wochen ist in Ninas Leben etwas passiert. Ich hatte das starke Bedürfnis, sie zu unterstützen. Da habe ich gemerkt, dass ich mich verliebe.»

Sophie: «Zuerst war ich neugierig und habe dich ermutigt, das zu entdecken. Aber nach zwei Monaten war alles ‹on fire›. Ich habe mich gefragt: Wer bin ich denn jetzt, wenn nicht mehr dein ein und alles? Ich fürchtete, dass Nina jetzt viel spannender ist als die Alte, die seit Jahren mit dir zu Hause hockt. Das Vertrauen zu bewahren, dass ich trotzdem noch wichtig bin, hat viel Übung gebraucht.»

Der Übergang in die Polyamorie dauerte ein halbes Jahr und fühlte sich für die beiden an, als würden sie ihre gesamte Beziehung auseinandernehmen und dann Stein für Stein wieder zusammenbauen.

Sophie: «Danach hat es sich für mich angefühlt wie eine Trennung. Ich habe getrauert, weil unsere alte Beziehung zu Ende gegangen war.»

Oliver: «Dabei ist unsere Beziehung, aus einer gewissen Distanz betrachtet, doch zu 80 bis 85 Prozent dieselbe. Unsere Grundwerte, unser Umgang miteinander, daran hat sich nichts geändert.»

Die beiden sind überfordert, also lesen und hören sie alles, was sie zum Thema finden können, Ratgeber, Podcasts, wissenschaftliche Studien. Es gibt auch Momente, in denen Sophie sich fragt, ob sie sich trennen soll. Dann entscheidet sie sich noch einmal bewusst dafür, Oliver in ihrem Leben zu behalten.

Sie streiten häufig, verlieren die Kontrolle über die Dynamik. Sie ziehen einen Paartherapeuten bei, der zehn Jahre Erfahrung mit polyamoren Beziehungen hat. Seine Aussenperspektive ist hilfreich. Sie lernen, ein drängendes Thema auch mal liegen zu lassen, wenn es gerade zu emotional ist. Sie lernen neue Konzepte, etwas das Begriffspaar «Mentor/Tormentor». Es beschreibt die Doppelrolle einer Beziehungsperson, die beim anderen einerseits einen unangenehmen emotionalen Prozess anstösst, indem sie zum Beispiel Eifersucht auslöst, aber der Person gleichzeitig auch beisteht, um die Situation zu bewältigen.

Während des Übergangs haben Oliver und Sophie sich entschlossen, sämtliche Regeln abzuschaffen, die sie für ihre offene Beziehung ausgemacht hatten. Auch das Vetorecht, das in vielen offenen Beziehungen die Hierarchie zwischen der Haupt- und anderen Beziehungen markiert: das Recht, seiner Partnerin oder seinem Partner bestimmte Handlungen mit anderen zu verbieten.

Oliver: «Es ist schlussendlich eine Glaubensfrage. Ich habe gemerkt, Kontrollmechanismen wie Regeln sind vor allem da, um einem die Angst zu nehmen. Aber rational betrachtet, braucht es diese gar nicht. Wenn ich mit meinen Gefühlen nicht umgehen kann, ist das letztlich mein Problem und nicht eines der Beziehung.»

Sophie: «Der Unterschied ist, dass ich nicht mehr frage: Darf ich das mit dieser Person machen? Sondern: Wo sind deine Grenzen? Dann braucht es Vertrauen, dass die andere Person meine Grenzen von sich aus nicht verletzen will.»

Oliver: «In dem Fall unterlasse ich etwas nicht darum, weil du Nein sagst, sondern weil ich es selber nicht machen will. Wir haben bald gemerkt, dass das äusserlich kaum etwas ändert, obwohl es sich sehr anders anfühlt.»

Ein Thema, das bei den beiden viel Raum einnimmt, ist die Organisation. Oliver, der im Moment das etwas komplexere Beziehungsleben hat, muss gut einteilen, wenn er all seine sozialen Bedürfnisse erfüllen will: Sophie und er wollen sich etwa drei Abende pro Woche sehen, Nina sieht er meistens an zwei Abenden, einmal mit Übernachten. Zudem hat er noch eine Handvoll guter Freund:innen, die er regelmässig treffen will, und daneben noch unverbindlichere Dates. Seine Woche ist also mehr oder weniger voll. Nervt das nicht manchmal, so verplant zu sein?

Sophie: «Wir sind beide sehr organisiert. Meistens sitzen wir am Wochenende mal zusammen und besprechen unsere Pläne. Dann machen wir unsere gemeinsamen Date Nights ab. Das können verschiedene Tage sein, wir sind also relativ flexibel. – Aber ich gebs zu, wir sind nicht die Allerspontansten.»

Oliver: «Ich finde das toll so. Ich überlege mir, was meine Bedürfnisse sind, plane entsprechend, dann weiss ich, worauf ich mich einstellen kann. Das klingt vielleicht plakativ, aber im Grunde sind all meine emotionalen und sexuellen Bedürfnisse erfüllt.»

Sophie: «Wenn ich im Moment eine neue Person kennenlerne und das nichts Tieferes ist, könnte ich sie in meinem aktuellen Konstrukt vielleicht einmal pro Monat treffen. Da bin ich gleich von Anfang an ehrlich.»