Clarissa «Von diesem Moment an ging ich nie wieder beichten»

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Illustration von Giulia Spagnulo: zwei Menschen stehen an einer Strassenlaterne und umarmen sich
Illustration: Giulia Spagnulo

Clarissa würde eigentlich gern wieder einmal einen Mann kennenlernen. Aber sie weiss nicht recht, wo. Sie überlegt eine Weile. «Klar, das Bedürfnis nach Sex habe ich schon. Ich bin noch nicht gelandet.» Aber auch wenn sie einen Mann treffen würde, was soll sie von der Begegnung erwarten? «Mein Körper ist auch nicht mehr wie mit fünfzig.»

Meistens sind es die etwas jüngeren Männer, die Clarissa gefallen. Ihren letzten lernt sie vor drei Jahren auf einem Onlineportal kennen, er ist damals 61, zwölf Jahre jünger als sie. Man sieht ihm noch gut an, dass er früher professioneller Kunstturner war. «Sein muskulöser Körper hat mich wahnsinnig fasziniert», schwärmt Clarissa. Es ist eine neue Erfahrung für sie, ebenso wie Sexting, die sexuell expliziten SMS-Nachrichten, die sie sich manchmal schicken. Die beiden treffen sich ein paar Mal. Für ihn geht es vor allem um Sex, Clarissa hätte sich auch mehr vorstellen können.

Clarissa hat nicht immer so offen über ihr Sexleben gesprochen. Ende der vierziger Jahre im Tessin geboren, katholisch erzogen, ist ihr Verhältnis zum eigenen Körper lange von einem schlechten Gewissen blockiert. Einmal, es ist noch am Anfang ihrer Pubertät, erwischt ihre Mutter sie beim Masturbieren. Als Clarissa sechzehn ist, masturbiert sie oft, danach beichtet sie bei einem Priester, sie habe unreine Dinge getan. Als sie in Zürich als Fotolaborantin arbeitet, beichtet sie manchmal in der Kirche auf dem Weg zwischen Geschäft und Labor. Bis ihr Anfang zwanzig ein Priester eröffnet, dass viele verheiratete Frauen sich selber befriedigen würden. Von da an geht Clarissa nie wieder beichten.

«Ich habe Sachen gemacht!», sagt Clarissa und wirft die Hände übers Gesicht. Dann erzählt sie weiter, auf ihre charmante Art, gleichzeitig zögerlich und neckisch, wenn sich die Geschichte einem pikanten Detail nähert.

Clarissa ist siebzig, als sie in eine tiefgreifende Krise gerät. Sie fragt sich, wer sie ist, wo sie im Leben steht. Sie sei eine Spätzünderin, sagt sie – bis heute. So habe sie auch spät gelernt, offener zu sein. Sie beginnt eine intensive Psychoanalyse, drei Jahre lang pflügt sie durch ihre Vergangenheit, legt Traumata frei, die sie bis heute prägen.

Ihren Exmann lernt sie im Zug vom Tessin nach Zürich kennen, bevor sie 20 ist. Mit 47 lässt sie sich von ihm scheiden.

Sie ist nicht glücklich in der Ehe, überlegt sich immer wieder, ihn zu verlassen. Clarissa hat nie wirklich Lust, mit ihrem Mann zu schlafen. «Ich habe zum Beispiel etwas gekocht, dazu eine Flasche Wein geöffnet, aber statt dass wir im Bett gelandet wären, haben wir uns bis drei Uhr nachts gestritten. Er wollte immer recht haben. Und ich auch.» Es braucht doch eine harmonische Atmosphäre, damit die Sexualität sich entwickeln und aufblühen kann, denkt Clarissa. Eher reizen sie die schönen Frauen in den französischen Erotikmagazinen, die sie manchmal am Kiosk kauft. Körperlich nahe kommen sie und ihr Mann sich selten. Erst später hört sie von anderen Männern Komplimente, was für eine schöne Frau sie sei.

Während der ersten Jahre ihrer Beziehung haben sie keinen Sex, nicht einmal küssen will sie ihr Mann. Es ist für Clarissa darum eine neue Erfahrung mit dem Mann, den sie in den Ferien in Italien zusammen mit einer Freundin kennenlernt. Sie ist 21, überlegt nicht viel, als sie in seinen Sportwagen einsteigt. Ein Süsser sei er gewesen, aber auch ein «Papagallo», ein Frauenaufreisser. Sie halten an, er küsst sie, will sie ausziehen. Clarissa sagt: «Ich habe noch nicht einmal Sex mit meinem Mann, meinst du, ich schlafe jetzt mit dir?» Er antwortet: «Gut, aber dann musst du mir helfen.» Also hilft sie ihm mit der Hand.

Mitte der siebziger Jahre macht Clarissa einen Schreibmaschinenkurs, arbeitet ein paar Jahre auf einer Bank. Nach einem Weihnachtsessen landet sie mit einer Gruppe in einer Disco, tanzt mit dem Broker, der ihr beim Essen gegenübersass, küsst ihn vor ihren Mitarbeiter:innen. Wieder zu Hause, ist sie erleichtert, dass ihr Mann noch nicht heimgekommen ist. In dieser Zeit denkt sie darüber nach, ihn zu verlassen. Er ist oft auf Geschäftsreisen, sie sehnt sich danach, eigenständiger zu sein. Also beginnt sie Anfang dreissig die Ausbildung in Sozialer Arbeit. Sie flirtet mit einem Mitstudenten. Einmal fragt er, ob er am Nachmittag vor der Abendschule zu ihr kommen könne. Sie lassen die Läden in ihrer Wohnung herunter, Clarissa erlebt beim Sex mit einem Partner zum ersten Mal einen Orgasmus. Später sucht sie noch ein paar Mal den Kontakt zu ihm, doch er ist ebenfalls verheiratet und sagt, er habe mit seiner Frau ein gutes Sexleben.

Kurz nach der Scheidung trifft sich Clarissa während drei Monaten mit einem Mann. Sie geniesst es, endlich richtigen Sex zu haben. Sie lernen sich über ein Inserat im «Tages-Anzeiger» kennen. «Ich verliebte mich schon am Telefon in seine Stimme», sagt Clarissa. Immer wieder erzählt sie, wie sie sich verliebt habe. Einmal in den zehn Jahre jüngeren Eiskunstlauflehrer ihrer Tochter, manchmal in flüchtige Bekanntschaften. Verliebt sie sich wirklich so schnell? «Ja, es ist blöd.» Sie verdreht die Augen.