Für einen gerechten Frieden: «Sie wollen uns fein säuberlich trennen»

Nr. 14 –

Könnte es so einfach sein? Die Palästinenserin Shirine Dajani und die Jüdin Rochelle Allebes über Regeln an Demonstrationen, realitätsfremde Medien und darüber, warum nicht alle erfreut sind, wenn sie sich gut verstehen.

Rochelle Allebes und Shirine Dajani
«Antisemitische und antimuslimische Gefühle sind in der Schweiz sehr lebendig»: Rochelle Allebes und Shirine Dajani.

Shirine Dajani, im November haben Sie in einem Interview gesagt, die Situation seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober sei die bisher schwierigste in Ihrem Leben. Wie geht es Ihnen heute?

Shirine Dajani: Das würde ich immer noch sagen. Ich bin seit zwanzig Jahren Aktivistin, der Kampf von uns Palästinenser:innen für gleiche Rechte ist nicht neu. Meine Grosseltern wurden 1948 von israelischen Truppen in den Libanon vertrieben, dieses Trauma ist in meiner Familie präsent. Aber in meiner Erfahrung gibt es eine Zeit vor dem 7. Oktober und eine danach. Als Palästinenserin habe ich mit den Israelis mitgefühlt, die dieses Leid ertragen mussten. Gleichzeitig wusste ich, dass die Vergeltung brutal sein würde. Ich fühlte mich völlig hilflos. Und ich konnte nicht über meine Trauer sprechen, weil die Leute Angst hatten, sich dem Thema zu nähern. Obwohl ich Schweizerin bin, fühlte ich mich hier plötzlich vollkommen isoliert. Es war, als wäre da eine dicke Wand aus Glas um mich herum. Das ist beängstigend.

Wie ist es jetzt?

Dajani: Was seither passiert ist, ist noch viel schlimmer, als was ich mir hätte vorstellen können. Dass die Welt zulässt, was die israelische Armee in Gaza anrichtet: Sie hungert die Menschen absichtlich aus, wirft riesige Bomben auf dicht bevölkerte Wohngebiete, hat 13 000 Kinder getötet. Die Bombardements sind derart heftig, dass der Gazastreifen auf Satellitenbildern eine andere Farbe angenommen hat. Wie es mir geht? Ich lebe Tag für Tag, gehe zur Arbeit, schaue zu meiner Tochter. Ich versuche, nicht ständig die Nachrichten zu verfolgen. Aber ich habe eine grosse Verantwortung, darüber zu sprechen, was in Gaza passiert. Menschen, die ich liebe, sind getötet worden. Ich kenne keine Palästinenser:innen, die in den letzten Monaten nicht jemanden dort verloren haben.

Spüren Sie die beschriebene Isolation noch?

Dajani: Ich habe wieder eine stärkere Verbindung zur palästinensischen Gemeinschaft hier in Zürich aufgebaut. Und ich hatte Glück, dass ich Menschen wie Rochelle getroffen habe. Das war an einem Treffen von «Gemeinsam einsam», einer Gruppe, in der Muslim:innen mit Jüdinnen und Juden ihre Gefühle und Gedanken zur aktuellen Situation teilen.

Allebes und Dajani

Rochelle Allebes (73) ist bei der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina aktiv. Sie ist in Amsterdam aufgewachsen und lebt in Zürich. Sie ist Systemtherapeutin und Supervisorin.

Shirine Dajani (41) ist Mitgründerin von Palestine Solidarity Schweiz. Sie ist unter anderem in Kanada aufgewachsen, lebt in Zürich und arbeitet bei einer Rückversicherung.

Kundgebung mit Beteiligung der beiden Gruppen unter dem Motto «Stoppt das Leid in Gaza!»: Bern, Bundesplatz, Samstag, 6. April, 16 Uhr.

Rochelle Allebes, wie geht es Ihnen, wie haben Sie die letzten sechs Monate erlebt?

Rochelle Allebes: Am 7. Oktober war ich in Amsterdam. Es war ein grosser Schock. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu realisieren, was da passiert war. Und es war für mich schwierig, darüber zu sprechen, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Ich habe ständig das Gefühl, mich positionieren zu müssen. Nach der Messerattacke auf einen orthodoxen Juden in Zürich Anfang März besuchte ich eine jüdische Kundgebung vor der ehemaligen Börse. Als ich die Banner dort sah, dachte ich, das ist nicht meine Gruppe.

Was für Banner?

Allebes: Zum Beispiel eines mit der Aufschrift «Never again is now», schwarze Schrift auf gelbem Grund. Der Slogan und die farbliche Anspielung auf den «Judenstern» stellen eine direkte Verbindung zum Holocaust her. Als ob ein Leid, das Jüdinnen und Juden erleben, nur dann wirklich schlimm ist, wenn eine Verbindung zum Holocaust gemacht wird. Natürlich verstehe ich, dass jüdische Menschen durch dieses Trauma getriggert werden. Trotzdem denke ich, dass wir eine Verantwortung haben, uns zu überlegen, in welcher Gegenwart wir leben. Ich gehe nur noch an Demonstrationen, wo eigene Banner und Plakate nicht erlaubt sind. So ist es auch an der Demo am 6. April in Bern, an der wir beteiligt sind.

Sie haben kein Problem damit, wenn palästinensische Flaggen verboten sind?

Dajani: Doch, damit habe ich ein Problem. Aber am 6. April gibt es diese Regel nicht. Flaggen von politischen Parteien sind verboten. Aber nicht die palästinensische, das war eine Bedingung für mich.

Wieso ist Ihnen das wichtig?

Dajani: Die palästinensische Flagge ist in Israel verboten. Sie ist unser Erkennungszeichen. Die palästinensische Identität wird so stark unterdrückt, ein Verbot würde sich so entfremdend anfühlen.

Was ist Ihre Meinung dazu, Rochelle Allebes?

Allebes: Ich kann das nachvollziehen, was du sagst, Shirine. Aber die Botschaft sollte nicht sein, dass Israel kein Existenzrecht hat – dann wird es heikel mit nur einer Fahne. Es ist nicht leicht, beide Seiten mitzudenken.

Was bedeutet das für Sie?

Allebes: Aktuell heisst das für mich, die Stimme zu erheben gegen die israelischen Angriffe auf Gaza und gleichzeitig nicht zu vergessen, dass die Menschen in Israel weiterhin traumatisiert sind vom Massaker der Hamas. Nicht über die Hamas zu sprechen oder sie als Befreiungsbewegung zu beschreiben, finde ich inakzeptabel.

Ist es so schwierig, sich zu verständigen?

Dajani: Viele haben das stereotype Bild im Kopf, dass wir nicht miteinander auskommen. Es gibt keinen Grund, warum das so sein sollte. Meine Familie hat mir immer erzählt, dass in ihren Gemeinden im historischen Palästina Jüdinnen und Juden, Muslim:innen und Christ:innen mehrheitlich friedlich zusammenlebten.

Allebes: Als Israel gegründet wurde, bezahlten die Palästinenser:innen den Preis für die Shoah in Europa.

Dajani: Meine Grosseltern wurden aus Palästina in den Libanon vertrieben. Nachdem ich als kleines Kind in Kanada gelebt hatte, lebte ich zwischen 1982 und 1987 mit Unterbrüchen auch im Libanon. Damals tobte ein Bürgerkrieg, die israelische Armee jagte Palästinenser:innen innerhalb des Libanon. In diese Zeit fällt auch das brutale Massaker von Sabra und Schatila, bei dem Hunderte palästinensische Geflüchtete mit israelischer Beteiligung ermordet wurden. Doch meine Mutter sagte immer zu mir: «Wir haben kein Problem mit Jüdinnen und Juden, sondern eines mit der israelischen Regierung.»

Diese Unterscheidung wird gern verwischt, um Kritik an Israel abzuwehren. Müssen Sie sich oft rechtfertigen, Shirine Dajani?

Dajani: Ständig. Ich habe es erlebt, dass mich ein Journalist aus dem Nichts gefragt hat, ob ich Juden hasse. Ich staune immer wieder, auf welchem Niveau sich die Diskussion bewegt. Oft musste ich zuerst ausführlich die Hamas verurteilen, bevor ich überhaupt über Palästinenser:innen sprechen durfte. Das ist sehr frustrierend.

Allebes: Die meisten Medien spielen hier eine seltsame Rolle. Ende Januar erschienen im «Tages-Anzeiger» sechs Seiten dazu, wie sich Jüdinnen und Juden in der Schweiz gerade fühlen. Dazu, wie sich Palästinenser:innen fühlen, erschien nichts. Die NZZ hat Ende März über israelkritische Jüdinnen und Juden geschrieben. Der Tenor des Artikels war: Diese Jüdinnen und Juden haben muslimische Freund:innen gefunden, aber es sind die falschen Freund:innen.

Dajani: Das ist doch herablassend und beleidigend.

Allebes: Für uns beide!

Dajani: Diese Leute leben in einer Blase, die nichts mit der Realität zu tun hat. Die Medien hätten eine Verantwortung, zu berichten, was passiert. Stattdessen stacheln sie zu Angst und Rassismus an und schüren damit weiter den Konflikt.

Allebes: Es scheint sie nervös zu machen, wenn wir uns gut verstehen. Sie wollen klare Positionen und uns fein säuberlich trennen. Wenn Leute zusammenkommen, die in ihrem Kopf nicht zusammengehören, verwirrt sie das.

Dajani: Antisemitische und antimuslimische Gefühle sind in der Schweiz sehr lebendig. Und beide richten sich gegen ein vermeintliches Aussen. Sie hetzen uns gegeneinander auf, weil sie uns beide nicht mögen – das ist das Gefühl, das ich habe.

Wann haben Sie sich sonst an der Berichterstattung gestört?

Allebes: Der Angriff auf einen muslimischen Vater und seinen Sohn in Bad Ragaz hat viel weniger Aufmerksamkeit bekommen als die Messerattacke in Zürich. Mit «Gemeinsam einsam» organisierten wir eine Aktion in Chur. Interessanterweise berichtete das jüdische Magazin «Tachles» auf seiner Frontseite darüber.

Dajani: Wir haben den achtzehnjährigen Sohn im Spital besucht, vier Tage nach dem Angriff. Er sagte uns, dass die Polizei noch immer nicht mit ihm gesprochen habe. Dafür veröffentlichte sie den Migrationshintergrund der Opfer. Wie um zu sagen: Es sind zwar Schweizer, aber auch Araber. Alle Medien haben das übernommen. Das tut weh.

Shirine Dajani, haben Sie in letzter Zeit persönlich Rassismus erlebt?

Dajani: Mehrmals. Einmal habe ich meine Kufiya getragen, und ein weisser, gross gewachsener Mann schrie mir auf der Strasse ins Gesicht, ich sei ein Vergewaltiger, ich würde die Hamas unterstützen. Das war sehr beängstigend. Jemand sagte mir, ich solle mich schämen. Eine Freundin, auch sie trug eine Kufiya, wurde im Zug von einem Mann angesprochen, sie solle das Tuch abnehmen. Sie weigerte sich, worauf er versuchte, es ihr wegzureissen. Zwei Passagiere hielten ihn zurück und riefen die Polizei. Ich höre viele solche Geschichten.

Am Samstag demonstrieren Sie gemeinsam für einen gerechten Frieden. Wie stellen Sie sich diesen vor?

Dajani: Gleiche Rechte für alle – für Palästinenser:innen ist das noch immer an keinem Ort in Israel der Fall – in einem einzigen Staat. Ein Staat Palästina in den international anerkannten Grenzen von 1967 ist nicht mehr möglich. All die illegalen Siedlungen hat Israel ja gerade gebaut, um die Zweistaatenlösung zu verhindern. Aber als Erstes müssen die Israelis diese Regierung loswerden. Wenn man Benjamin Netanjahu fragen würde, gäbe es nirgendwo auf der Karte ein Palästina: nur israelische Herrschaft, vom Fluss bis zum Meer.

Wie kann sich etwas ändern?

Dajani: Die Geschichte zeigt doch: Wer Privilegien hat, gibt diese nicht von sich aus auf. Darum glaube ich nicht, dass es ohne Druck von aussen auf Israel eine Lösung geben wird.

Allebes: Es ist trotzdem wichtig, Gleichgesinnte in Israel und Palästina zu unterstützen.

Dajani: Absolut!

Allebes: Und wie privilegiert ist jemand, dessen Kinder jederzeit in die Armee eingezogen und getötet werden können oder selber töten werden? Ich sehe Israel nicht als ein sicheres Land, auch nicht für Jüdinnen und Juden. Auf jeden Fall muss es ein demokratischer und gerechter Staat werden. In welcher Form, können nur die Menschen bestimmen, die dort leben.