Projektionen im Krieg: «Ich will meine Linke wieder zurück»

Nr. 46 –

Worüber reden wir, wenn wir über Israel und Palästina reden? Ein Gespräch mit Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, über mangelndes Mitgefühl und universelle Positionen, Antisemitismus und allzu schnelle Urteile in den sozialen Medien.

der Künstler Eliasaf Myara bemalt 2015 in einem israelischen Dorf einen Bunker
«Der Nahostkonflikt», sagt Meron Mendel, «dient als Projektionsfläche für Bildung und Bestätigung der eigenen Gruppenidentität.» Im Bild: Der Künstler Eliasaf Myara bemalt 2015 in einem israelischen Dorf einen Bunker. Foto: Meinrad Schade, Laif

WOZ: Meron Mendel, ein aktueller Text von Ihnen im «Spiegel» trägt den Titel «Deutschland, wo bleibt das Mitgefühl?». Darin beklagen Sie, der Terroranschlag der Hamas habe in der Gesellschaft nur wenig Solidarität ausgelöst. Woran machen Sie die Empathielosigkeit fest?

Meron Mendel: In Deutschland hat sich bezüglich der Reaktion auf den Anschlag eine Kluft aufgetan: zwischen der Politik sowie einem Grossteil der Medien – man kann sagen, den Eliten –, die sich klar positionierten, und der breiten Gesellschaft. Nach den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 hatten sich beispielsweise 200 000 Personen vor dem Brandenburger Tor in Berlin versammelt, nach dem 7. Oktober waren es nun bloss 10 000. Auch die Social-Media-Trends lassen sich vergleichen: Nach dem islamistischen Anschlag auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» in Paris 2015 war der Spruch «Je suis Charlie» omnipräsent. Ich kenne kaum jemanden, der sein Facebook-Profil nicht entsprechend geändert hatte. So etwas haben wir jetzt nicht einmal ansatzweise gesehen. Welches Beispiel man auch nimmt: Das öffentliche Entsetzen nach dem Angriff auf jüdische Israelis war viel kleiner als nach vergleichbaren Terrorattacken.

Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

In dem angesprochenen Beitrag ziehe ich einen Vergleich zwischen den deutsch-französischen und den deutsch-israelischen Beziehungen. Während Erstere als Teil der Nachkriegsversöhnung von der gesamten Gesellschaft getragen wurden, blieb der Versöhnungsprozess mit Israel, auf den Deutschland so stolz ist, stets ein Projekt der Eliten – 93 Prozent der Bevölkerung waren noch nie in Israel. Zudem werden Angriffe auf US-Amerikanerinnen oder Franzosen jeweils als Angriffe auf den Westen, also auf uns selbst betrachtet. Angriffe auf Jüd:innen hingegen gelten als Angriffe auf jemand anders, sie werden als das kollektive Andere wahrgenommen: Der Soziologe Klaus Holz spricht in Bezug auf den Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts auch vom Juden als dem «Dritten der Nationen». Das ist natürlich kein neues Phänomen, sondern sitzt sehr tief.

Meron Mendel

Der deutsch-israelische Pädagoge Meron Mendel (47) ist Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Die Einrichtung beherbergt zwei Beratungsstellen für die Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus und möchte für diese Themen sensibilisieren. Geboren in Ramat Gan nahe Tel Aviv und aufgewachsen im Kibbuz, studierte Mendel Geschichte in Haifa und München und promovierte zu den Lebensrealitäten jüdischer Jugendlicher in Deutschland.

Seit Jahrzehnten setzt sich Mendel für Frieden zwischen Israelis und Palästinenser:innen ein. Treibende Kraft seiner Politisierung in Jugendjahren sei der Nahostkonflikt gewesen, schreibt er in seinem im März im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch «Über Israel reden. Eine deutsche Debatte». Darin beschreibt er auch seinen dreijährigen Militärdienst in der Westbank. In Hebron wurde Mendel das Unrecht der Besetzung bewusst: Er war dort stationiert, um jüdische Siedler:innen vor den Palästinenser:innen zu schützen, dabei benötigten vor allem diese Schutz vor den radikalen Israelis.

Mendel publiziert regelmässig zu Themen wie postmigrantische Erinnerungskultur, Antisemitismus und Rassismus oder Identitätspolitik. Gemeinsam mit seiner Frau, der Politologin Saba-Nur Cheema, schreibt er für die FAZ die Kolumne «Muslimisch-jüdisches Abendbrot».

Gleichzeitig kochen in Gesprächen über den Konflikt in Israel und Palästina jedes Mal die Gefühle hoch, nach dem Anschlag der Hamas und den Bomben der israelischen Armee auf Gaza erst recht. Woher kommt eigentlich diese Emotionalität bei dem Thema, die etwa im Reden über Russlands Krieg gegen die Ukraine fehlt?

Der Nahostkonflikt dient als Projektionsfläche für die Bildung und die Bestätigung der eigenen Gruppenidentität. Die Uigurinnen in China oder die Muslime in Indien werden seit Jahren unterdrückt, können von einer solch riesigen Aufmerksamkeit ihrer Glaubensbrüder und -schwestern aber nur träumen: Kein Post oder Tweet über ihre Situation wird auch nur annähernd so oft geteilt wie einer über die Lage der Palästinenser:innen. Das gilt auch für unsere Kreise: Ich kann mich nicht erinnern, dass nach der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach im September Linke sich besonders darüber aufgeregt oder Begriffe wie «Genozid» benutzt hätten – obwohl wir über die komplette Vertreibung einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus ihrer Heimat sprechen. Geht es um den Nahostkonflikt, finden an sich sehr heterogene Gruppen einen gemeinsamen Nenner.

Ihr aktuelles Buch heisst «Über Israel reden». Was wird in Debatten hier jeweils mitverhandelt, wenn wir über den Krieg dort sprechen?

Es geht weniger um die reale Situation vor Ort als vielmehr um eine bestimmte Funktion, die der Konflikt einnimmt, und zwar für alle Seiten: Wenn Evangelikale in den USA sich bedingungslos an die Seite der Netanjahu-Regierung stellen und mit viel Geld und politischem Einfluss Siedlungsprojekte unterstützen, hat auch das weniger mit der Situation in Israel zu tun. Wir haben ein winziges Stück Land, auf dem zwei Völker seit hundert Jahren gegeneinander kämpfen. Und wir haben ein paar Milliarden Menschen auf der Welt, die auf diesen Fleck Erde schauen und ihre eigenen Bedürfnisse hineinprojizieren – Dschihadisten und Evangelikale ebenso wie Teile der postkolonialen Linken, die Israel als Vorposten des Westens im Globalen Süden und aktuelles Beispiel für Kolonialismus sehen.

Portraitfoto von Meron Mendel
Meron Mendel, Leiter Bildungsstätte Anne Frank

Aber wie kommt es, dass dieses Stück Land zur Projektionsfläche wurde?

Sicher hat es damit zu tun, dass dort die heiligen Orte der drei grossen monotheistischen Religionen liegen. Aber wir können auch die Geschichte des Antisemitismus nicht ausblenden: Sehr viele Bilder, an die der aktuelle Diskurs anknüpft, stehen in einer praktisch ungebrochenen Kontinuität, etwa die Vorstellung von Jüd:innen als privilegierte Minderheit. Und die korrespondiert natürlich mit der alten antisemitischen Annahme, sie seien besonders mächtig, regierten hinter den Kulissen die Welt.

Und wie drückt sich diese Vorstellung in der Diskussion über den Nahostkonflikt aus?

Dort heisst es dann, die Jüd:innen würden die US-amerikanische und generell die westliche Politik kontrollieren und als Kolonialist:innen die indigene Bevölkerung unterdrücken. Dass dies eine Projektion ist, heisst aber natürlich nicht, dass keine reale Unterdrückung stattfindet: Die Besetzung seit 1967 ist der absolute moralische Abgrund israelischer Politik. Die Schwierigkeit besteht darin, darauf hinzuweisen – und zugleich aufzuzeigen, dass sehr viel von der an Israel gerichteten Kritik nichts mit dieser realen Unterdrückung zu tun hat.

Antisemitismus kommt bekanntlich in allen gesellschaftlichen Milieus vor. Mich persönlich treibt primär jener in der Linken um. Nur ein Beispiel dafür ist ein kürzlicher Instagram-Post von Fridays for Future (FFF), bei dem diverse antisemitische Topoi bedient wurden. Welche Mechanismen sind am Werk, dass ein solcher Post abgesetzt wird?

Wichtig sind in diesem Kontext die sozialen Medien. Zwar haben sich Menschen schon immer einer bestimmten Gruppe zugeordnet, auch als Überlebensstrategie. Neu ist hingegen, dass man sich in den sozialen Medien so eindeutig zu dieser Gruppe bekennen muss, indem man sich in jedem Konflikt auf eine Seite stellt. Wenn ich also FFF unterstütze, weil mir das Thema Klimawandel wichtig ist, geht damit auch ein Set weiterer Bekenntnisse einher, die ich mittragen muss. Ich bezweifle, dass Greta Thunberg besonders viel über die Geschichte des Nahostkonflikts weiss … Dennoch herrscht in den sozialen Medien die Erwartung, innerhalb von Millisekunden zu wissen, welche Seite die «gute» und welche die «böse» ist und entsprechend schnell eine Position einzunehmen – und das bei jedem Thema, wir sind alle angeblich Expert:innen für alles. Für Differenzierung und Ambiguitäten bleibt da kein Platz. Stattdessen ist alles schwarzweiss: Ist man für die Palästinenser:innen, haben sie am Ende immer recht – und umgekehrt.

Und diese binäre Logik zeigt sich dann auch in der analogen Welt.

Absolut. Das sehen wir etwa beim Thema Waffenstillstand – ohne dass ich hier jetzt eine inhaltliche Position dazu einnehme. Hinter der Forderung steckt überhaupt kein Plan, abgesehen davon, dass man will, dass es aufhört. Den Impuls kann jede:r nachvollziehen. Aber was ist die Vision? Will man beispielsweise, dass eine internationale Friedenstruppe nach Gaza geschickt wird? Auch hier wird aus dem Affekt heraus gehandelt: Wir wollen jetzt sofort einen Waffenstillstand! Natürlich ist es leicht, das in den sozialen Medien zu fordern, moralisch ist das schliesslich unanfechtbar, denn wer ist schon dafür, dass weitere Zivilist:innen sterben? Was mir aber fehlt, ist die Antwort auf die Frage, welcher Waffenstillstand und was danach passiert. Solche Gedanken sind zu kompliziert für die unterkomplexe Debatte in den sozialen Medien.

Nun prägt nicht nur Antisemitismus die Debatte, sondern auch antimuslimischer Rassismus. In Deutschland etwa sprechen Politiker:innen von «importiertem» Antisemitismus und instrumentalisieren das für die Forderung nach einer härteren Migrationspolitik. Wie gefährlich sind solche Argumentationsmuster?

Das ist tatsächlich ein Problem. Allerdings ist diese rechtsextreme oder rechtspopulistische Strategie nicht am 7. Oktober erfunden worden. Die AfD hat den Kampf gegen Antisemitismus schon viel früher für sich entdeckt, um die Muslim:innen in die Schranken zu weisen. Für mich heisst der Befund allerdings nicht, dass wir die Probleme im muslimisch geprägten Milieu verschweigen sollten, denn von dort kamen auch jene, die nach dem Massaker der Hamas in Berlin Neukölln Süssigkeiten verteilten. Im Kampf gegen Antisemitismus müssen wir deshalb auch spezifisch diese Gruppe ansprechen, sei es in Moscheegemeinden oder in den sozialen Medien. 

Doch zugleich müssen wir jeder Pauschalisierung entschieden entgegentreten. Auch in der muslimischen Community gibt es Stimmen, die sich klar gegen Antisemitismus positionieren, und die gilt es zu stärken. Mit der Rhetorik des Abschiebens und der Abschottung vor Migration erreicht man leider genau das Gegenteil.

Ein Kapitel in Ihrem Buch behandelt die Position der Linken im Nahostkonflikt. Wie hat sich diese historisch herausgebildet?

Die deutsche Linke ist aufgrund der deutschen Geschichte natürlich speziell. Insgesamt steht die Linke spätestens seit 1967 Israel sehr kritisch gegenüber – und das aus guten Gründen. Dass die Besetzung des Westjordanlands und von Gaza ungerechtfertigt ist, ist eine genuine und unausweichliche linke Position. Nach dem 7. Oktober konnten wir aber beobachten, wie sich ein Teil der Linken entlarvt hat – auch Leute, die ich persönlich gut kenne. Der Anschlag der Hamas galt ja nicht den Siedler:innen in der Westbank, sondern den sozialistischen Kibbuzim, in denen die meisten Bewohner:innen der Friedensbewegung angehören. Die Freund:innen, die ich verloren habe, schickten ihre Kinder in jüdisch-arabische Schulen, sie sprachen fast so gut Arabisch wie Hebräisch. Unter den Ermordeten und Entführten waren Leute, die palästinensische Krebspatient:innen aus Gaza in israelische Spitäler brachten.

Was meinen Sie, wenn Sie von Entlarvung sprechen?

Auf Social Media wurden Videos geteilt, die zeigen, wie junge Menschen auf einem Rave angegriffen werden und wegrennen. Sie wurden mit dem Satz kommentiert: «Hier fliehen die Siedler.» Aber wenn Menschen in Ortschaften innerhalb der Grenzen von 1967 als Siedler:innen bezeichnet werden, steckt dahinter die Position, dass Jüd:innen auf diesem Stück Land per se nichts zu suchen haben. Viele Linke sprechen auch vom antikolonialen Befreiungskampf, dessen Mittel nicht wir im Westen zu bestimmen hätten. Dass der vermeintlich gute Zweck die Mittel heiligt, kennen wir aber aus Ideologien wie dem Stalinismus oder Maoismus.

Hat Sie überrascht, wie stark diese Haltung verbreitet ist?

Es hat mich sogar zutiefst erschüttert. Gerade bei Menschen, mit denen ich seit Jahren im Austausch bin, ging ich trotz aller Meinungsverschiedenheiten von einem Konsens in Bezug auf unsere Grundwerte aus. Ich dachte, wir können uns instinktiv darauf einigen, dass eine Gruppe, die Frauen und Kinder abschlachtet, keine Befreiungsbewegung sein kann. Stattdessen scheint es für einige fast schon eine Mutprobe zu sein, die Hamas zu verurteilen. Das kommt für mich einem moralischen Bankrott gleich.

Schon bei Russlands Krieg gegen die Ukraine habe ich mich oft gefragt, wieso in Teilen der Linken nicht einmal die Solidarität mit der angegriffenen Bevölkerung Konsens ist. Wie erklären Sie sich das?

Einerseits mit einer gewissen antiwestlichen Tradition – und das ist auch das verbindende Glied zwischen der Ukraine und Israel. Oft werden etwa die engen Beziehungen zwischen Russland, dem Iran und der Hamas übersehen. Das andere ist die neuere Entwicklung einer Linken, die sich als «woke» versteht. Sie beruft sich auf universelle Prinzipien, stellt im Kampf gegen Diskriminierung aber die partikularen Rechte von Minderheiten in den Vordergrund. Und das ist grundsätzlich nicht immer falsch. Nach dem Mord an George Floyd haben wir «Black Lives Matter» gerufen – ein partikulärer Claim, um sich mit Schwarzen Menschen zu solidarisieren und auf deren spezifische Diskriminierung hinzuweisen. Entsprechend ist auch eine Antwort wie «All Lives Matter», mit der die Augen vor der spezifischen Betroffenheit verschlossen werden, nichts anderes als Rassismus. Problematisch wird es nun aber, wenn der Partikularismus nur selektiv angewendet wird. Nach dem Anschlag der Hamas verweigerten sich Linke dem Bekenntnis zu «Jewish Lives Matter», reflexhaft und noch bevor der Krieg anfing, war schon «All Lives Matter» zu hören. Gerade beim intersektionellen Blick werden die Jüd:innen oft vergessen, weil sie als privilegierte Minderheit gelten.

Hat diese Positionierung auch damit zu tun, dass Jüd:innen in identitätspolitischen Debatten meist als weiss gelesen werden?

Genau, sogar als weisse Kolonialherrscher:innen. Die Konstruktion jüdischer Menschen als weiss ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Einerseits wird dadurch verkannt, dass sie vor dem Zweiten Weltkrieg in Europa von der Mehrheitsgesellschaft nicht als weiss wahrgenommen, sondern aufgrund ihrer vermeintlichen Rasse verfolgt wurden. Andererseits stammt mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in Israel gar nicht aus Europa. Das sind Menschen, die aus dem Irak, dem Jemen, Syrien, Marokko oder Algerien vertrieben wurden.

In den Diskussionen über Israels Krieg gegen die Hamas werden oft Begriffe wie «Kolonialismus», «Genozid» oder «Apartheid» angeführt. Wie kommt es eigentlich, dass kein historischer Vergleich zu gross scheint, um die israelische Politik zu beschreiben?

Über das Thema Apartheid kann man sicher diskutieren. Ich würde den Begriff nicht per se ablehnen – als jemand, der seit dreissig Jahren gegen die Besetzung des Westjordanlands kämpft, bin ich dankbar für jede Kategorisierung, die in diesem Kampf hilft. Das Problem ist, dass damit schnell auch die Delegitimierung der Existenz von Jüd:innen in Israel einhergeht, in Tel Aviv, Be’er Scheva oder Haifa. Der Gebrauch des Begriffs «Genozid» ist vor allem auch ein Social-Media-Phänomen: Es geht darum, zu schockieren, Empörung auszudrücken – und um Mobilisierung. Umso mehr die Sprache eskaliert, umso mehr lässt sich auch Druck aufbauen.

Sie leiten die Bildungsstätte Anne Frank, die unter anderem für Antisemitismus und Rassismus sensibilisieren will. Wie spiegelt sich die Auseinandersetzung um den Nahostkonflikt in Ihrer täglichen Arbeit?

Wir haben viele interne Debatten geführt, mussten um eine gemeinsame Haltung ringen. Denn unsere Mitarbeiter:innen mit ihren sehr diversen Hintergründen sind ganz unterschiedlich vom Konflikt betroffen: Wir haben Leute, die am 7. Oktober zufälligerweise in Israel waren, und solche mit Freund:innen in Gaza. Das war natürlich eine Herausforderung, und ich bin ziemlich stolz, dass es nicht zum Konflikt kam, sondern dass die Diskussionen im Gegenteil den Zusammenhalt des Teams gestärkt haben, weil wir offen miteinander sprechen konnten. 

Nur eine Anekdote: Zwei Mitarbeitende mit einer konträren Meinung haben für 48 Stunden ihre Handys getauscht, um in den Social-Media-Feed der anderen Person einzutauchen. Die Realitäten, die vermittelt werden, sind je nach Echokammer ja sehr unterschiedlich. Um zu verstehen, wie der andere darauf blickt, muss man auch verstehen, welchen Input er bekommt. Anschliessend sagten beide, dass sie ihren eigenen Standpunkt wieder zur Disposition gestellt hätten.

Kürzlich spülte es mir ein Bild in die Facebook-Timeline, auf dem Gaza mit Auschwitz verglichen wird. Gerade junge Leute scheinen ihr Wissen über den Nahostkonflikt oft einzig von Instagram-Kacheln zu haben. Sie arbeiten auch viel mit Jugendlichen. Wie laufen die Diskussionen in den Schulen derzeit ab?

Mir persönlich hat auch da ein klarer Reflex gefehlt: Der Anschlag der Hamas wurde kaum erwähnt, geschweige denn gab es Schweigeminuten oder Trauerbekundungen. Dass da keine Einordnung stattgefunden hat, betrachte ich als grosses Versagen des deutschen Bildungssystems – und als moralisches Armutszeugnis. Unsere Schulen sind ja nicht nur für den Mathe- und Physikunterricht da, sondern auch zur Vermittlung eines Wertekanons.

Was würden Sie Lehrer:innen raten, die sich schwertun, im Unterricht einen guten Umgang mit dem komplexen Thema Nahostkonflikt zu finden?

Terror zu verurteilen, ist ja nicht komplex. Ich verstehe nicht, warum es vielen so schwerfällt. Als Erstes müssen wir also über Haltung sprechen. Inzwischen ist die Situation natürlich viel komplexer, jetzt nur von den Opfern des 7. Oktober zu reden und nicht über jene in Gaza, wäre falsch. Ein wichtiger Aspekt ist also der Zeitpunkt einer Diskussion. Es gibt aber auch eine langfristige Aufgabe: Weil der Nahostkonflikt für viele Schüler:innen identitätsstiftend ist, müssen wir Wissen über dessen Entstehungsgeschichte vermitteln, um den verzerrten und falschen Informationen aus den sozialen Medien entgegenzuwirken. Mein Sohn hat in seiner Schule etwa den Auftrag übernommen, ein Referat über den Nahostkonflikt zu halten, und hat sich nun vertieft damit beschäftigt. Das können natürlich auch Lehrer:innen machen. Wichtig ist, ein ausgewogenes Bild zu vermitteln, in dem die Sicht von Palästinenser:innen und jüdischen Israelis gleichermassen zum Ausdruck kommt, ohne dass ein Urteil gefällt wird.

Wir haben viel über Fragen gesprochen, die einen verzweifeln lassen. Gibt es auch etwas, das Ihnen in dieser ganzen Gemengelage Hoffnung macht?

Jetzt, wo der Krieg läuft, ist Hoffnung fast schon illusorisch. Aber wenn am Ende sowohl die Hamas als auch die Netanjahu-Regierung nicht mehr an der Macht sind, können gemässigte Kräfte vielleicht eine neue Realität schaffen. Ohne die militärischen Massnahmen Israels zu rechtfertigen, hoffe ich auf einen Sieg über die Hamas und dass dann etwa die Fatah in Gaza an die Macht kommt. Und von israelischer Seite hört man ja, dass die grosse Mehrheit – auch jene, die früher Netanjahu und seine Verbündeten gewählt haben – bitter enttäuscht ist. Das heisst natürlich nicht, dass sie alle gleich in die Friedensbewegung wechseln. Aber zumindest besteht die Möglichkeit auf einen Schwenk in Richtung friedliche Politik. Das ist das einzige positive Szenario, das ich mir ausmalen kann.

Und worauf hoffen Sie hier bei uns?

Ich will meine Linke wieder zurückhaben. Und ich werde nicht aufgeben, nicht konservativ oder rechts werden, nur weil mich jene, die ich in meinem Lager wähnte, bitter enttäuscht haben. Vielmehr brauchen wir eine neue europäische oder internationale Linke, bestehend aus jenen, die gemeinsame universelle Werte haben. Das ist ein grosses Projekt, in das ich gerne Zeit und Energie stecken möchte.

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