Repression in Israel: Angst und Misstrauen

Nr. 44 –

Der Krieg hat das Leben in Israels Städten verändert. Arabische Israelis verlieren ihre Jobs oder werden von der Polizei festgenommen – oft wegen Posts auf Social Media.

Israelische Sicherheitskräfte in der Altstadt von Jerusalem
In Jerusalem ist es trügerisch ruhig: Israelische Sicherheitskräfte in der Altstadt. Foto: Mostafa Alkharouf, Getty

Es ist das erste Mal seit dem Terrorangriff der Hamas, dass Mohammed Idkedik wieder zur Arbeit kommt. Idkedik ist israelischer Palästinenser. Als mit dem Massaker vom 7. Oktober an mehr als 1400 israelischen Bürger:innen der Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas begann, wusste der 23-Jährige, dass sich alles ändern würde: für ihn, seine Familie im Ostjerusalemer Stadtteil Wadi al-Dschos und für seine jüdischen Freund:innen in Westjerusalem. «Die Angst und das Misstrauen sind überall zu spüren», sagt er.

Mohammed Idkedik arbeitet in einer Pizzeria im mehrheitlich jüdisch bevölkerten Westjerusalem. Fast vier Wochen nach Kriegsbeginn sind viele Geschäfte und Restaurants dort weiter geschlossen. Dafür gibt es Gründe: Während des letzten Konflikts zwischen der radikalislamischen Hamas und Israel kam es in den wenigen Städten, in denen – wie in Jerusalem – Jüd:innen und Muslim:innen zusammenleben, zu heftigen Zusammenstössen, die gar Tote forderten. Diesmal bleibt es noch vergleichsweise ruhig. Dem Aufruf der Hamas, sich dem Kampf gegen Israel anzuschliessen, sind die israelischen Palästinenser:innen nicht gefolgt. Dennoch haben die brutalen Terrorakte sowie die israelischen Gegenangriffe auf Gaza gegenseitiges Misstrauen erzeugt. Lokale Medien berichten von vereinzelten Übergriffen auf arabische Israelis. Demonstrationen in arabischen Gemeinden Israels wurden teilweise verboten.

Zwar haben sich unter den arabischen Israelis bekannte Stimmen wie der Knesset-Abgeordnete Ayman Odeh schnell und deutlich gegen den Terror der Hamas positioniert. Doch es gab auch viele, die sich mit einer Verurteilung schwertaten. Mohammed Idkedik wollte deshalb ein Zeichen setzen: Er traute sich am 18. Oktober mit der arabisch-jüdischen Aktivistengruppe «Wir stehen zusammen» auf die Strasse. Es lief anders als geplant.

Verhaftungen und Suspendierungen

Zusammen mit seinem jüdischen Mitstreiter Rimon Lavi zog Idkedik los, um in Jerusalem Plakate aufzuhängen. Weit kamen die beiden nicht. «Nach ein paar Hundert Metern stoppte uns die Polizei», erzählt der 79-jährige Lavi. «Wir mussten alle Plakate abgeben, einschliesslich unserer T-Shirts.» Beide bekamen eine Busse von umgerechnet mehr als hundert Franken. Auf den Plakaten stand: «Wir stehen das zusammen durch» – auf Hebräisch und Arabisch. «Sie sagten, wir hätten keine Genehmigung», sagt Lavi, «dabei ist Jerusalem voll von Plakaten.»

Knapp einen Monat nach dem schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte Israels häufen sich auch Berichte über Verhaftungen, Suspendierungen und Anzeigen. Behörden, Firmen oder Privatpersonen gehen laut der NGO Adalah vor allem gegen arabische Israelis und Aktivist:innen vor. Seit dem 7. Oktober zählt die Organisation Ermittlungen in 170 Fällen. Laut Polizei gab es 110 Festnahmen sowie 24 Anklagen. Davon geht der überwiegende Teil laut Adalah auf Posts in sozialen Medien zurück. Die NGO nennt auch mehr als hundert Fälle, in denen Universitäten und andere Bildungseinrichtungen Disziplinarmassnahmen gegen Studierende erlassen hätten. Der Sprecher von Adalah, Ari Remez, sieht darin eine erhebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit. Arabische Israelis machen rund ein Fünftel der Bevölkerung des Landes aus.

Das harte Vorgehen wird massgeblich von der rechtsreligiösen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unterstützt. Die Polizei hat grossen Ermessensspielraum bei der Entscheidung, was als Terrorunterstützung gewertet werden kann. Israels Polizeichef Yaakov Schabtai sagte in der ersten Kriegswoche, jeder, der ein Bürger Israels sein möchte, sei willkommen. Jede, die sich mit dem Gazastreifen identifizieren möchte, solle sich hingegen «in die Busse setzen, die jetzt dorthin fahren».

Idkedik sagt, die Polizei suche gezielt nach problematischen Aussagen. Auch deshalb gehe er kaum mehr auf die Strasse. Freund:innen hätten bei Kontrollen ihre Handys entsperren müssen. Einem sei das Telefon zerstört worden, als er sich weigerte.

Das Spektrum der Fälle, gegen die die Behörden vorgehen, ist breit. Längst nicht alle äusserten so deutlich unverhohlen Unterstützung für den Hamas-Angriff wie die bekannte palästinensisch-israelische Schauspielerin Maisa Abd Elhadi. In einem Post schrieb sie zu einem Bulldozer der Hamas, der am 7. Oktober den Grenzzaun zu Gaza einriss: «Let’s go Berlin style». Abd Elhadi wurde festgenommen und vor kurzem angeklagt. Israels Innenminister Mosche Arbel will noch weiter gehen und prüfen lassen, ob ihr die Staatsbürgerschaft entzogen werden kann.

Schwierige Abwägung

Betroffen von Verhaftungen sind aber auch viele, die sich weniger eindeutig äusserten. In Tiberias, am Westufer des Sees Genezareth, wurde eine israelisch-arabische Lehrerin suspendiert, weil sie einen Beitrag der populären Instagram-Seite «Eye on Palestine» geliked hatte, die zu den Ereignissen in Gaza und im Westjordanland postet. In Nazareth nahm die Polizei die bekannte palästinensisch-israelische Sängerin Dalal Abu Amneh fest. Sie hatte am 7. Oktober auf Arabisch den Satz «Es gibt keinen Sieger ausser Gott» geteilt. Laut ihrer Anwältin sei der Post von ihrem PR-Büro veröffentlicht worden. Abu Amneh befinde sich nun an einem geheimen Ort, weil sie Todesdrohungen erhalten habe. In Haifa verbrachte ein palästinensischer Automechaniker vier Tage in Polizeigewahrsam, nachdem er zu den israelischen Bombardierungen in Gaza gepostet hatte: «Wir werden unser Volk weiter unterstützen, trotz deren Politik.»

«Jeder Ausdruck von Solidarität mit palästinensischen Opfern, von Opposition gegen den Krieg in Gaza oder die Erwähnung von Kriegsverbrechen werden als Unterstützung terroristischer Vereinigungen gewertet», kritisiert Ari Remez von Adalah. Die israelische Polizei teilte auf Nachfrage mit, sie erhalte das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aufrecht. Es sei jedoch «notwendig, gegen jene vorzugehen, die dieses Recht ausnutzen, um zu Gewalt aufzurufen». Die Festnahmen beträfen solche Fälle oder Bürger, deren Handeln «eine erhebliche Bedrohung für die Stabilität der öffentlichen Ordnung» darstelle.

Wie schwierig diese Abwägung allerdings sein kann, zeigt die Geschichte von Jasmin Suleiman. Sie heisst eigentlich anders, will ihren richtigen Namen aber nicht publiziert sehen. Wenige Tage nach ihrer Freilassung sitzt die 32-jährige Palästinenserin in einem Café im Osten Jerusalems. Am 7. Oktober hatte sie gegen Abend, als in den Nachrichten bereits von Hunderten durch die Hamas ermordeten Kindern, Frauen und Männern die Rede war, auf Facebook gepostet: «Ich fühle mich wie in einem Traum.» Daneben Herzen in den palästinensischen Nationalfarben. Der Anlass sei persönlicher Natur gewesen und habe nichts mit dem Hamas-Terror zu tun gehabt, behauptet Suleiman. Ihr Post wurde von anderen Nutzer:innen verbreitet.

«Mein Telefon hörte nicht mehr auf zu klingeln», erzählt Suleiman in Anwesenheit ihres Anwalts Nabil Izhiman. Sie habe Hunderte Nachrichten, E-Mails und Anrufe bekommen. Drohungen wie «Wir werden dich vergewaltigen, wir werden dich finden». Schliesslich schrieb sie einen weiteren Post, in dem sie schwor, sich nicht auf «die tragischen Ereignisse am 7. Oktober» bezogen zu haben, sondern auf ein «intimes, persönliches Ereignis». Ihr Telefon klingelte trotzdem weiter. Dutzende Menschen hätten sie bei der Polizei angezeigt, sagt sie. Dann seien Beamt:innen zum Haus ihrer Familie in Ostjerusalem gekommen. Auf Fotos zeigt Suleiman die zerstörte Einrichtung der Wohnung, Löcher in den Wänden und zerschlagene Möbel. Sie selbst musste für drei Tage ins Gefängnis, wurde verhört und dann wieder freigelassen. «Eine Vorladung hätte ja gereicht», sagt ihr Anwalt. Mit mehreren palästinensischen Kolleg:innen hat er Suleimans Fall freiwillig übernommen, so wie auch andere. Sie pochen auf den Schutz der Redefreiheit, auch in Kriegszeiten.

Kann er das Vorgehen der Polizei nachvollziehen, angesichts der hoch problematischen Posts seiner Mandantin zu einem Zeitpunkt, als das schreckliche Ausmass der Hamas-Massaker längst ersichtlich war? «Was sie veröffentlicht hat, rechtfertigt diese Massnahmen nicht», beharrt Izhiman. So deplatziert der Post gewesen sein mag, er beziehe sich mit keinem Wort auf die Ereignisse am 7. Oktober. Auch für Suleiman müsse gelten: «Im Zweifel für die Angeklagte.»

Täglich Hunderte Anrufe 

Dass nicht nur palästinensische Israelis wegen ihrer Äusserungen in Schwierigkeiten geraten, musste der linke jüdisch-orthodoxe Journalist Israel Frey erleben. Nachdem er in Tel Aviv ein traditionelles Trauergebet sowohl für die Opfer der Hamas als auch für die in Gaza getöteten Frauen und Kinder gesprochen hatte, versammelte sich vor seiner Wohnung in der ultraorthodoxen Stadt Bnei Brak ein wütender Mob. «Kein Kind sollte den Preis für die Taten von Fanatikern bezahlen müssen», hatte Frey beim Gebet gesagt. Die Demonstrant:innen vor seinem Haus riefen: «Verräter», und warfen Feuerwerkskörper. Er musste seine Wohnung unter Polizeischutz verlassen. Wenige Tage später meldete er sich mit einer Videobotschaft von einem unbekannten Ort, an dem er sich aus Angst um sein Leben verstecke. Er erhob schwere Vorwürfe gegen rechte Gruppen und kritisierte die Festnahme von «fast einhundert Palästinenserinnen und Palästinensern wegen Hetze» für Posts auf Instagram und Facebook.

Für Alon-Lee Green, den Kodirektor der Aktivistengruppe «Wir stehen zusammen», sind Fälle wie der von Frey nur ein Beispiel für die Einschüchterung von Israelis, die sich gegen die Regierungspolitik oder in Solidarität mit den Palästinenser:innen äussern. «Wir bekommen täglich Hunderte Anrufe von Menschen, die von ihrer Arbeit suspendiert wurden. Einige Dutzend haben tatsächlich Unterstützung für die Hamas ausgedrückt. Die grosse Mehrheit aber hat vor allem Dinge wie ein Ende des Krieges oder Rücksicht auf die Kinder in Gaza gefordert.» Israel brauche diese Menschen – genauso wie seine arabischen Mitbürger:innen. Auch sie seien Teil der Gesellschaft, auch sie hätten ein Trauma erlitten. Die Mehrheit von ihnen zu kriminalisieren, sei gefährlich. Das könne neue Fronten innerhalb Israels schaffen und neue Gewalt schüren, ist er überzeugt.