Durch den Monat mit Karin Huber (Teil 3): Was ist «inspiration porn»?

Nr. 50 –

Karin Huber, Kogeschäftsführerin von Avanti donne, über die zwar gut gemeinte, aber deplatzierte Art, für die «lieben, hilfsbedürftigen Behinderten» zu sammeln.

Karin Huber unterwegs im ÖV
«Es ist, als ob blinde Menschen eine exotische Gattung seien, die über wundersame Eigenschaften verfüge»: Karin Huber.

WOZ: Frau Huber, Sie haben als Juristin doktoriert. Warum haben Sie Recht studiert?

Karin Huber: Es hätte auch Germanistik sein können. Aber das Recht hat mich interessiert, weil es ein spannendes Gebiet ist, da es viele Bezüge in alle Lebensbereiche hat. Das Recht ist auch ein Instrument, um Schwächere vor den Stärkeren zu schützen.

Haben Sie als Anwältin gearbeitet?

Nein, ich bin auf Verwaltungsrecht spezialisiert und arbeite seit einigen Jahren in einer Verwaltung als juristische Mitarbeiterin. Meine Sehbehinderung führt dazu, dass ich für alles sukzessive etwas länger brauche. Als ich das realisiert habe, bin ich auf eine Beratungsstelle für Sehbehinderte gegangen. Ich wollte Tipps, wie ich mit der Beeinträchtigung am besten umgehen kann. Da sass eine Sozialarbeiterin, die mir ein paar Merkblätter und ein Vollmachtformular in die Hand drückte – sie könne dann für mich bei den Behörden Anträge stellen. Als Verwaltungsrechtlerin muss ich ständig Anträge schreiben, das ist mein Job. Die Sozialarbeiterin hat aber nicht zugehört, was ich eigentlich brauche. Es interessierte sie nicht, wer da vor ihr sass. Sie sah in mir nur die hilfsbedürftige Blinde. Für mich war das ein Schock. In diesem Moment realisierte ich: Jetzt gehörst du zur anderen Seite – zur Seite der Patient:innen, zu den Behinderten.

Wie haben Sie reagiert?

Ich bin gegangen und habe gedacht, dass mir das jetzt nicht viel gebracht hat. Seither habe ich mich bei Fragen und Schwierigkeiten eigentlich immer an Betroffene aus meinem Umfeld gewendet. Die besten Tipps und Ratschläge erhalte ich von Leuten, die selber eine Sehbehinderung haben. Sagen Sie, könnten wir auch über «inspiration porn» reden?

Worüber?

Unter «Inspirationsporno» versteht man eine bestimmte Form der Darstellung von Menschen mit Behinderung, die nichtbehinderte Personen «inspirieren» soll. Die australische Comedian und Journalistin Stella Young hat den Begriff vor einigen Jahren in einem öffentlichen Auftritt geprägt. Leider ist sie inzwischen gestorben, aber den Auftritt kann man immer noch schauen, es lohnt sich. Sie thematisiert darin diese verdeckte Abwertung von Menschen mit Behinderung, die mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung medial «zur Schau gestellt» werden. «Nichtbehinderte können uns ansehen und denken: Es könnte schlimmer sein – ich könnte diese Person sein», bringt es Young auf den Punkt. Wie es den so vorgeführten Personen dabei geht, interessiert nicht.

Würde die Spendensammelkampagne «Wir Blinden helfen gern» auch darunter fallen? Die Werbefirma, die die Kampagne gestaltet hat, sagt selber, sie wolle damit Bewunderung für die blinden Menschen auslösen. Wörtlich schreibt sie: «Denn wer nicht sehen kann, hat dafür meist spitzere Ohren oder eine feinere Nase – und kann damit anderen Menschen eine Hilfe sein.» Ist das «inspiration porn»?

Wahrscheinlich ja. Störend ist vor allem, wie platt und eindimensional blinde und sehbehinderte Personen in dieser Kampagne dargestellt werden. Die Darstellung erweckt den Eindruck, blinde Menschen seien eine exotische Gattung, die über wundersame Eigenschaften verfüge. Irritierend finde ich auch den Bezug zum Animalischen: Sie haben eine feine Nase wie ein Spürhund oder spitze Ohren wie ein Luchs. Die Darstellung widerspricht der Inklusion. Ich möchte dazu allerdings noch sagen, dass dies den Verantwortlichen vermutlich gar nicht bewusst ist und sie es wirklich «gut gemeint» haben. Mir waren die Mechanismen von «inspiration porn» früher auch noch nicht so bewusst. Aber wie beim Kolonialismus, beim Rassismus oder Sexismus braucht es Aufklärung und Sensibilisierung.

«Inspiration porn» spült Geld in die Kassen. Wie sammelt Avanti donne Spenden?

Im Gegensatz zu den Verbänden haben wir keine Ressourcen für Marketing und Fundraising. Bei uns fliessen alle Ressourcen in unsere Arbeit. Aber wir sind froh um Spenden und bräuchten auch dringend mehr (lacht).

Soll man an Organisationen, die für die «lieben, hilfsbedürftigen Behinderten» Geld sammeln, gar nicht spenden?

Bei solchen Kampagnen sollte man kritisch sein. Das Problem dabei ist ja, dass die «lieben, hilfsbedürftigen Behinderten» zum Geschäftsmodell dieser Organisationen gemacht werden. Und solange sich damit Geld verdienen lässt, wird sich am Bild der «bedürftigen Behinderten» nichts ändern. Der Gleichstellung ist damit nicht gedient. Es ist deshalb besser, wenn man für Organisationen spendet, die von Betroffenen selbst geführt werden.

Wie findet man die?

Agile.ch ist der Dachverband der Selbsthilfeorganisationen. Es gibt aber relativ wenig Selbsthilfeorganisationen, die konsequent von Selbstvertreter:innen geführt werden. Ein gutes Beispiel ist der Verein Tatkraft, der sich mit verschiedenen Projekten für eine barrierefreie Gesellschaft einsetzt.

Karin Huber (46) empfiehlt, den Auftritt von Stella Young auf www.ted.com zu schauen oder zu lesen, der den schönen Titel trägt «I’m not your inspiration, thank you very much!» («Ich bin nicht Ihre Inspiration, vielen Dank!», leider nur auf Englisch, aber mit Transkribierung).