Durch den Monat mit Carola Rackete (Teil 1): Wie hat der Nordpol Sie politisiert?

Nr. 14 –

Als Kapitänin der «Sea-Watch 3» wurde Carola Rackete im Sommer 2019 weltbekannt, als sie die Anweisungen der italienischen Behörden missachtete und mit Flüchtenden in Lampedusa anlegte. Der damalige Innenminister Matteo Salvini tobte.

Carola Rackete bei einer Medienkonferenz in Luzern anlässlich der «No Frontex»-Abstimmung
«Ich habe gemerkt, dass viele Leute wenig über Frontex wussten.» Carola Rackete bei einer Medienkonferenz in Luzern anlässlich der «No Frontex»-Abstimmung. Foto: Urs Flüeler, Keystone

WOZ: Carola Rackete, haben Sie eigentlich mal wieder etwas von Matteo Salvini gehört?

Carola Rackete: Als ich meine Kandidatur fürs EU-Parlament ankündigte, haben sowohl Salvini als auch Politiker:innen der Fratelli d’Italia sehr scharf darauf reagiert.

Wie war das damals für Sie, von einem der mächtigsten Männer Italiens öffentlich angegriffen zu werden?

Auf dem Schiff hat man das gar nicht so mitbekommen, weil man da nur schlechten Internetzugang und auch ganz andere Probleme hatte. Wir hatten ja die geretteten Menschen an Bord.

Die Bilder, wie Sie in Lampedusa von der Polizei abgeführt werden, gingen um die Welt. In den Medien gelten Sie seither als Symbolfigur der Seenotrettung. Wie gehen Sie mit dieser Rolle um?

Ich versuche einfach, eine authentische Geschichte über mein Leben zu erzählen. Da spielt die Seenotrettung natürlich eine wichtige Rolle. Ich finde es bis heute richtig und fundamental wichtig, dass die Zivilgesellschaft darauf schaut, ob die Menschenrechte an der EU-Grenze eingehalten werden. Nicht nur auf dem Mittelmeer, sondern auch auf dem Balkan. Trotzdem versuche ich, über die Themen zu sprechen, bei denen ich mehr Expertise habe: also Naturschutz und die Klimakrise, die ja mit sozialen Problemen eng zusammenhängen. Bei Sea-Watch war ich gar nie angestellt, sondern habe nur ausgeholfen, weil kurzfristig jemand ausgefallen war.

Haben Sie auch wegen der Repression mit der Seenotrettung aufgehört?

Nein, eigentlich nicht. Ich war seither auch noch einmal auf einem Seenotrettungsschiff, aber ich habe nicht öffentlich darüber geredet, weil es mir nicht um diese Art von Aufmerksamkeit geht. Man muss auch klar sagen: Die Untersuchungsverfahren gegen mich wurden eingestellt. Ungefähr gleichzeitig wie ich wurden drei junge Geflüchtete auf Malta strafrechtlich verfolgt, «El Hiblu 3» werden sie genannt. Sie sind noch immer nicht freigesprochen. Über diese Ungleichbehandlung müssen wir reden.

Vor zwei Jahren hatten wir in der Schweiz die «No Frontex»-Abstimmung, in deren Vorfeld Sie durchs Land getourt sind. Was haben Sie da für Erfahrungen gemacht?

Ich habe gemerkt, dass viele Leute wenig über Frontex wussten. Die Menschenrechtsbrüche, die Frontex vorgeworfen wurden, erhielten vermutlich weniger Aufmerksamkeit in der Schweiz als in Deutschland.

Jetzt kandidieren Sie als Parteilose auf der Liste der Linkspartei bei den Europawahlen. Hätten Sie sich das vor fünf Jahren vorstellen können?

Nein, gar nicht. Aber die EU-Länder stehen heute viel weiter rechts als damals. Natürlich hatte Italien schon damals eine rechte Regierung. Aber in Frankreich, in Deutschland, in Schweden, in Finnland und so weiter war die Stimmung insgesamt viel progressiver. Ich habe mich zu dieser Kandidatur entschieden, weil ich es wichtig finde, diesem Rechtsruck zu begegnen. Natürlich kann man das auf unterschiedliche Weise machen. Wir müssen nicht alle Parteipolitik machen. Aber in Deutschland fehlt ein Korrektiv: eine starke Partei, die links von den Grünen und der SPD steht.

Nächste Woche stimmt das EU-Parlament über die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (Geas) ab, eine weitreichende Verschärfung. Das gilt als Formsache.

Es ist dramatisch, wie schnell der Verfall der Menschenrechte in den europäischen Staaten voranschreitet. Vor wenigen Jahren haben sich Leute noch über die Inhaftierung von Kindern an den Grenzen der USA empört. Jetzt plant man an den EU-Aussengrenzen im Prinzip das Gleiche. Die Linke ist die einzige Partei in Deutschland, die gegen die Geas-Reform stimmt.

Sie haben Nautik studiert und auf Forschungsschiffen – etwa in der Arktis – gearbeitet. Das hat Sie politisiert. Warum?

Meine erste Reise zum Nordpol war eindrücklich. Ich war 23 Jahre alt und hatte neu meinen Schiffsführerschein. Schon damals gab es deutlich weniger Meereis, als ich mir vorgestellt hatte. Und die Wissenschaftler:innen, die schon zwanzig Jahre dazu geforscht hatten, erzählten, wie sie Studien veröffentlicht und gehofft hatten, dass politisch etwas passieren würde. Ich habe gemerkt, wie frustriert sie darüber sind. Also habe ich mir die Frage gestellt, ob es Sinn ergibt, in der Wissenschaft weiterzuarbeiten, wenn der Hebel woanders liegt. Wir haben ja kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.

Trotzdem haben Sie später als Offizierin auch auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet. Wie stehen Sie heute dazu?

Ich habe auf Expeditionsschiffen in der Antarktis gearbeitet. Für reiche Kund:innen, die einmal die Antarktis sehen wollen, bevor das Eis dort weggeschmolzen ist. Ich fand das nie gut, aber habe einen Job gebraucht. Das ist eine systemische Frage: Auch wenn ich gegen Kurzstreckenflüge bin, liegt die Verantwortung nicht bei den Angestellten der Fluglinien.

Carola Rackete (35) wurde nach ihrer Verhaftung in Italien sowohl als «Zecke» bezeichnet als auch mit Sophokles’ Antigone verglichen. Ihren Nachnamen spricht man so aus wie den Flugkörper.