Durch den Monat mit Carola Rackete (Teil 3): Haben Sie keine Angst, dass die Macht Sie korrumpiert?

Nr. 16 –

Die Naturschutzökologin Carola Rackete kandidiert im Juni fürs Europäische Parlament – obwohl sie der EU ein grosses demokratisches Defizit attestiert.

Carola Rackete betritt vor ihrer Wahl zur Kandidatin für das Europaparlament die Bühne
Carola Rackete: «Politiker:in zu sein sollte man als eine demokratische Aufgabe wahrnehmen, nicht als Karriere.» Foto: Karl-Josef Hildenbrand, Keystone

WOZ: Carola Rackete, sind Sie Revolutionärin?

Carola Rackete: Ich glaube nicht, dass im Europaparlament irgendeine Revolution ausbrechen wird (lacht).

Und ausserhalb des Parlaments?

Nein, eigentlich nicht. Ich führe diese Diskussion manchmal mit Bekannten aus Chile, wo es 2019 enorme Proteste gab – und erhebliche Gewalt der Polizei. Viele haben durch Schussverletzungen ihr Augenlicht verloren. Revolution ist keine schöne Sache. Wir bräuchten aber schon eine grosse Umwälzung. Sozusagen eine …

Revolution?

Ja, wir bräuchten eine Revolution, weil die Institutionen zu langsam und nicht demokratisch genug sind. Aktuell ist es aber besser, auf eine friedliche Transformation durch gesellschaftliche Mehrheiten hinzuwirken.

Sie haben mal gesagt: «Wir haben eine grosse Ungleichheit, was Mitsprache angeht. Alle haben eine Stimme, aber sie werden nicht gleich gehört.» Wie lässt sich das ändern?

Utopischerweise bräuchte es so etwas wie ein internationales Parlament, in dem alle mitreden können. Angeblich soll das die Uno sein, aber das ist nicht dasselbe wie eine direkte Bürger:innenvertretung. Auch bei der EU lässt sich ein grosses demokratisches Defizit feststellen. Zwar wird das Europaparlament gewählt, aber die Kommission wird ernannt, ohne dass die Bürger:innen mitreden können – meist schachern die Mitgliedstaaten hinter verschlossener Tür um die Posten. Und im Rat sitzen die einzelnen Mitgliedstaaten, die jedes Gesetz blockieren können, wenn es ihnen nicht gefällt.

Ehrlich gesagt: Wir waren etwas enttäuscht, dass Sie bei den Europawahlen kandidieren. Wieso wollen Sie Parlamentarierin werden?

Zu meiner Kandidatur haben wir uns als Team entschlossen – gemeinschaftlich mit Leuten, die bei der «Seebrücke» für sichere Fluchtwege oder der Antikohlebewegung aktiv waren. Ich glaube nicht, dass wir im Parlament tief sitzende gesellschaftliche Konflikte auflösen können. Allerdings halte ich es für wichtig, während eines Rechtsrucks linke Institutionen zu schützen. Da gehört die Linkspartei dazu.

Dennoch kandidieren Sie als Parteilose auf der Liste der Linkspartei. Warum?

Weil ich als Parteilose angefragt wurde und glaube, dass es wichtig ist, dass ich unabhängig agieren und kommunizieren kann. Auch um damit die Vernetzung zu den sozialen Bewegungen, spezifisch zur Klimagerechtigkeitsbewegung, leisten zu können. Von dort habe ich viele positive Rückmeldungen erhalten. Ich glaube, im Moment sind viele Menschen aufgrund des Rechtsrucks verzweifelt und fragen sich, was sie tun können.

Dafür verliert die ausserparlamentarische Bewegung ein bekanntes Gesicht. Braucht es nicht auch Leute, die sich dort engagieren?

Auf jeden Fall. Das ist extrem wichtig, und man kann sich gegenseitig bestärken – wenn klar ist: Es gibt verschiedene Rollen. Die Leute im Parlament sollten nicht unabhängig von der Basis agieren, und es braucht Mandatszeitbegrenzungen. Ein Vorwurf lautet: Politiker:innen machen Karriere und denken eigentlich nur an sich. Dabei sollte man diese Rolle als eine demokratische Aufgabe wahrnehmen, die man für kurze Zeit hat – und dann wieder aufgibt. Nicht als Karriere.

Trotzdem: Macht korrumpiert.

Klar, diese Gefahr besteht. Deshalb braucht es ein starkes Korrektiv von aussen. In Deutschland ist die Geschichte der Grünen ein solcher Frust: Die Partei ist aus der Antiatomkraftbewegung hervorgegangen, hat mittlerweile aber sehr viele ihrer ursprünglichen Werte über Bord geworfen. Bei der Linken gibt es allerdings – anders als bei den Grünen – bei Abstimmungen keinen Fraktionszwang. Deswegen sind die Abgeordneten unabhängiger.

Parteiintern wurden Sie stark kritisiert, als Sie in der «Zeit» eine Aufarbeitung der SED-Vergangenheit der Linkspartei gefordert haben. Die SED war die Staatspartei in der DDR.

Wir hatten das Zitat nicht richtig freigegeben. Es ist nicht unbedingt meine Meinung, dass die SED-Geschichte in der Partei gar nicht aufgearbeitet wurde. Ich habe darüber gesprochen, was übliche Argumente sind, die Leute gegen Die Linke ins Feld führen.

Haben Sie konkrete Ziele für den Fall, dass Sie gewählt werden?

Wir würden versuchen, in den Umwelt- und in den Agrarausschuss zu kommen. Zudem wollen wir einen Expert:innenkreis bilden – mit Menschen aus dem Globalen Süden und aus sozialen Bewegungen hier, um gemeinsam zu überlegen, worauf wir uns fokussieren. Es gibt tausend Anliegen, die wichtig sind. Ich will das nicht privat entscheiden.

Wovon leben Sie eigentlich?

Das ist auch ein Punkt: Wer wenig Geld hat, kann sich kaum politisch engagieren. Ich bin Freiberuflerin und kann den Wahlkampf in dieser Intensität nur machen, weil ich Ersparnisse habe, vor allem aus der Seefahrtszeit. Davon lebe ich im Moment. Andere im Team machen es ähnlich.

Da sie viel unterwegs ist, hat Carola Rackete (35) keinen festen Wohnsitz. An ihrer Meldeadresse, die zum Schutz vor rechten Angriffen unter Auskunftssperre steht, ist sie nur selten.