Schullektüre: Das Phantom des Kanons

Nr. 10 –

Aus Schüler:innensicht werden am Gymnasium zu viele alte Texte gelesen. Die Abneigung ist verständlich. Warum ich als Deutschlehrer trotzdem weiterhin altes Zeug lesen möchte.

Graffiti Tag «In Jugend Sprache!» auf der Reclam-Ausgabe von «Woyzeck»
Auch eine Möglichkeit der Vergegenwärtigung: Asin Andkohiy hat Georg Büchners «Woyzeck» in Jugendsprache umformuliert. Foto: Christoph Hardt, Imago

Der literarische Kanon ist mittlerweile auch nur ein Listicle unter vielen. Und Listicles sind toll: Wenn das Magazin «Rolling Stone» eine handverlesene Vorschlagsliste mit den 150 besten Science-Fiction-Filmen herausgibt, dann motiviert mich das, Dinge zu sehen, die weder ich noch mein ungesund auf mich fixierter Netflix-Algorithmus kennen.

Aber: «Den» Kanon gibt es nicht. Alle möglichen Leute haben neue Kanons für die deutsche Literatur herausgegeben. Den des legendären Kritikers Marcel Reich-Ranicki konnte man sogar im Bücherschuber mit Tragehenkel kaufen. Doch selbst er mochte keine Leseverpflichtung mehr aussprechen – er verglich seine Zusammenstellung mit einer «Krücke» für den Weg durch die Literaturgeschichte. Mittlerweile vergriffen, steht seine Liste neben dem Gegenkanon von Teresa Reichl, die in ihrem 2023 erschienenen Buch «Muss ich das gelesen haben?» einen diverseren Kanon fordert. Beide bringen mich dazu, Texte zu lesen, die ich vorher nicht kannte.

Die Kanon-Kanone aus Ditzingen

Dennoch: Das Wort «Kanon» klingt nach «Zukunft braucht Herkunft», nach bildungsbürgerlichem Dünkel und Ausschluss. Kein Wunder: Die Entwicklung der ersten literarischen Kanons fällt in die Zeit der Nationenbildung im 19. Jahrhundert.

Lehrpläne geben heute kaum noch Bücher vor – zum Glück. Dennoch gibt es einen impliziten Kanon von Texten, die für die Literaturgeschichte immer wieder gelesen werden – ich spreche hier als Deutschlehrer nur von der deutschen Literatur: «Emilia Galotti» von Gotthold Ephraim Lessing, «Der Sandmann» von E. T. A. Hoffmann oder Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter».

Und auch ein impliziter Kanon grenzt aus: Bücher wie zum Beispiel «Nach Mitternacht» von Irmgard Keun, ein schmaler Band, der in einer beklemmenden Leichtigkeit erzählt, wie der Nationalsozialismus im Alltag im Deutschland der dreissiger Jahre jede menschliche Beziehung durchdringt. Im Moment ist das Buch zwar wieder greifbar, aber in einer verhältnismässig teuren Ausgabe, ohne Zusatzmaterialien wie bei der vergriffenen, die auf meinem Dachboden lag. Kanon bedeutet auch Massenproduktion, und Lehrmittel werden ebenfalls nicht zu jedem Buch gedruckt.

Ich gestehe: Auch ich lese mit meinen Schüler:innen gerne gelbe, kleine Bücher aus Reclams Universalbibliothek, der Kanon-Kanone aus Ditzingen bei Stuttgart. Der kollektive Zusammenbruch meiner Schüler:innen beim Anblick des Stapels ist garantiert – und ich verstehe ihn durchaus: Manchmal muss man diese Texte regelrecht übersetzen, um sie zu verstehen. Die Schüler:innen sehen sich auch den Vorlieben ihrer Lehrer:innen ausgeliefert: Ich halte die Weimarer Klassiker für einen überschätzten Herrenverein, dafür finde ich die Romantik vielleicht etwas zu wichtig.

Letztlich bricht sich die Frage nach Sinn und Unsinn eines literarischen Kanons heute runter auf die Frage: Warum soll man sich denn überhaupt noch alte Bücher antun?

Nicht nur die Nation stand dem Kanon Pate: Über literarische Kanonisierung begann man nachzudenken, als der Leitstern der Theologie zu sinken begann und man literarischen Texten mehr und mehr die Kraft zusprach, die man zuvor nur in heiligen Schriften sehen wollte: sinnstiftend zu sein, wert, noch Generationen lang gelesen zu werden. Und die Schule hat hier die Aufgabe, einen Weg zu Büchern zu zeigen, die heute freiwillig niemand mehr liest.

Warum? Zu wenig Diskussionen wird beispielsweise der Anspruch führen, dass die Erinnerung an die Shoah zu den zentralen Aufgaben des Deutschunterrichts gehört. Literatur wird hier zu einer Zone zum Umgang mit dem schier Unaussprechlichen.

Aber auch anderes scheint es mir wert, immer wieder neu gelesen zu werden: Mit den Gedichten der Nachkriegsavantgarde beispielsweise erinnert man an den heute fast naiv wirkenden Glauben, den man in die Wucht der Literatur setzte, gerade angesichts der Verwüstungen des Krieges.

An Literatur vergangener Epochen lässt sich erleben, welch wichtige Rolle gerade die Kunst für das Ringen um eine lebenswertere Gesellschaft gespielt hat. Und dass sich das Bürgertum Schöngeistigkeit mal aus purer politischer Notwendigkeit geleistet hat. Literarische Texte deuten darauf hin, dass Menschlichkeit nie eine Selbstverständlichkeit war und ist, sondern immer etwas Errungenes.

Einladung zum Bildersturm

Man sitzt als Lehrperson auch in der verstaubten Asservatenkammer der Kultur, um daran zu erinnern, dass Geschichten nicht jeden Tag in Storytelling-Workshops neu erfunden werden, sondern sich Bildern bedienen, an denen seit Jahrhunderten gepröbelt wird.

Warum wurde ausgerechnet eine Geschichte über raffinierte Apfelschusskunst von einer nordischen Legende durch einen Deutschen zu einer Schweizer Nationalerzählung, um dann in allerlei Kontexte exportiert zu werden, wie zum Beispiel in die antikolonialen Kämpfe auf den Philippinen?

Oder Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame»: Das Buch ist ein zu Tode gelesener Schinken, ja. Aber wieso funktioniert dieser Plot von 1956 auch in der Landschaft Senegals, wie im Film «Hyänen» (1992) von Djibril Diop Mambéty, und wird bis heute sogar noch in der Mongolei von Theatergruppen gespielt?

Daraus sollte kein Kult ewiger vergangener Werte werden. Die Mehrdeutigkeit des Wortes «Kanon» ist handlungsleitend: Es geht auch darum, zeitversetzt, überschichtend dasselbe zu singen – aber eben in Variation.

Ein Kanon ist immer auch eine Einladung zum Bildersturm. «Die schwarze Spinne» (1842) von Jeremias Gotthelf versteckt hinter ihrer Einleitung, die so öd idyllisch ist wie eine Butterwerbung, ein fremdenfeindliches Horrorwerk, unhaltbar – aber sicher eine Diskussion wert: Warum hat man so etwas so lange als zeitlose Parabel über den «Wert der Werte» lesen können, wie Altbundesrat Ueli Maurer mal meinte?

An nichts lassen sich die blinden Flecken früherer Generationen so schön zeigen wie an Literatur. Georg Büchners «Woyzeck» (1837) ist eines der Bücher, die in kaum einem Gymnasial-Curriculum fehlen. Zu Recht. Aber heute kann es nicht mehr nur als die sozialkritische Geschichte eines unterdrückten Antihelden diskutiert werden, sondern auch als ein Buch über einen Femizid. Im Lesen alter Literatur verhandelt man die Gegenwart.

Deutschunterricht muss die Angriffe auf Kanonisierungen wahrnehmen, Altes rausschmeissen, Neues reinnehmen. Schillers «Räuber» (1781) mit ihrer damals als derb geltenden Sprache klingen heute wie eine Satire auf das Fluchen von Adeligen. Sie findet ihr Wirkungsäquivalent heute wohl weniger bei Reclam, sondern eher in Romanen wie jenem von Behzad Karim Khani über zwei Brüder in Neukölln, «Hund Wolf Schakal».

Produktive Gewissensbisse

Manchmal muss man mit Traditionen brechen, um ihnen treu zu bleiben. Wenn man beschliesst, ein Buch, von dem alle sagen, dass man es lesen muss, nicht mehr zu lesen, entsteht eine Lücke im inneren Bücherregal. Das Phantom des Kanons bereitet einem dabei ein äusserst produktives schlechtes Gewissen: Findet man etwas ähnlich Gewichtiges, um das entfernte Buch zu ersetzen? Wie alt das dann wirklich sein muss, gilt es immer wieder zu prüfen, sonst läuft man Gefahr, «das Entschlafene, für uns mumienhaft Vertrocknete an sein Herz zu schliessen». Wie Goethe mal meinte.

David Eugster (42) ist Deutschlehrer an der Zürcher Kantonsschule Enge.

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Kommentare

Kommentar von grapo

Fr., 08.03.2024 - 00:06

"Der" Kanon ist kein Listicle, sondern ein Produkt kultureller Hegemoniesierung. Genauso steht "der" Kanon alter weisser Männer nicht unschuldig neben Kritiken an diesem; er hat eine privilegierte Machtposition inne, die durch Deutschlehrpersonen an den Schulen perpetuiert wird. "Die Abneigung" geht diesbezüglich nicht nur von Schüler*innen - was Anlass zur vertieften Reflexion genug wäre -, sondern auch von Lehrpersonen und kritischen Bildungswissenschftler*innen aus.
Die Frage, ob alte Bücher noch gelesen werden sollen, verkürzt die Kritik an der hegemonialen Kanonisierung mit nostalgischem Drift vollends: Welche Bücher werden warum an den Schulen gelesen? Und v.a. welche nicht? Was soll warum gelesen und vermittelt werden? Was wünschen sich die Schüler*innen?
Kanonisierte Bücher gegen den Strich - Tell mit Hug, etc. - zu lesen ist toll, doch das reicht nicht. Innerhalb des "impliziten" Kanons an den Schulen mag das eine pragmatische Lösung mit Erkenntnisgewinn sein. Aber eine gesellschaftskritische Analyse "des" Kanons muss darüber hinausgehen. Sonst ist es Weichspülerdiversity für die Schule.