Schullektüre: Leseschwäche oder bloss die falschen Bücher?

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Noch immer lassen viele Lehrpersonen im ­ Deutschunterricht vor allem Klassiker lesen – obwohl es spannende aktuelle Alternativen gäbe. Warum das schade ist und was zeitgenössische Schweizer Jugendbücher zu bieten hätten.

Ausschnitte aus Bücherclips von Booktoker:innen
Im Netz funktioniert das Lesen ganz gut: Bücherclips von sogenannten Booktoker:innen sind beliebt. Screenshots: Instagram

Jede und jeder vierte Jugendliche in der Schweiz hat eine Leseschwäche. Das zeigt die Anfang letzten Dezember veröffentlichte Pisa-Studie. Die vergleichende weltweite Erhebung unter fünfzehnjährigen Schüler:innen wirft viele Fragen auf. Wie soll sich eine künftige Generation auf dem Arbeitsmarkt behaupten, wenn sie kaum fliessend lesen kann? Machen die Schulen zu wenig, um die Lesekompetenz zu fördern? Oder vielleicht das Falsche? Wie müsste sich der Deutschunterricht verändern, damit Lesen zu einer Grundkompetenz für alle wird? Und welche Rolle spielt dabei die Klassenlektüre?

Wenn neuer Lesestoff im Klassenzimmer verteilt wird, ist die Stimmung oft angespannt. Die Seiten werden gezählt, andere suchen die Zusammenfassung im Internet zusammen. Die Schullektüre ist für viele ein Albtraum. Und das vor allem, weil im Deutschunterricht immer noch mehrheitlich Klassiker gelesen werden, die wenig mit der Sprache und den Lebensrealitäten der Jugendlichen zu tun haben.

Dürrenmatt dominiert

Während es in anderen Ländern Listen und Vorgaben zur Schullektüre gibt, wurden diese in der Schweiz mit der Einführung des Lehrplans 21 abgeschafft. Schweizer Lehrpersonen haben theoretisch alle Freiheiten und dürfen mit ihren Klassen lesen, was sie für sinnvoll erachten. Trotzdem greifen viele immer wieder zu den gleichen Titeln und ganz besonders gern zum Schweizer Kultautor Friedrich Dürrenmatt. Nicht zuletzt dank des Schweizer Diogenes-Verlags, der sein Gesamtwerk verlegt, hat Dürrenmatts Werk bis heute einen hohen Stellenwert; auch zur Freude vieler Lehrpersonen, die fleissig Klassensätze von Dürrenmatt-Büchern nachbestellen.

Dürrenmatt erfreut sich durchaus einer gewissen Beliebtheit bei den Jugendlichen und begeistert auch auf der Social-Media-Plattform Tiktok junge Leser:innen, die «Die Physiker» oder «Der Besuch der alten Dame» in die Kamera halten. Doch das sprachliche Niveau ist für leseschwache Jugendliche oft zu hoch, und die Geschichten spielen in einer vergangenen Zeit. So zeitlos die Konzepte Dürrenmatts sind, so fern ist die Lebensrealität der Figuren in seinen Werken, verglichen mit den jugendlichen Lebenswelten im Jahr 2024. Eine Ergänzung mit aktuelleren Titeln tut not – und ein Abwägen, ob Dürrenmatt und andere Klassiker zwangsläufig zu jeder schulischen Laufbahn dazugehören müssen.

Viele Schüler:innen haben eine klare Haltung bezüglich Schullektüre. «Ich hätte mir Bücher von Autorinnen gewünscht, mehr Diversität und moderne Themen und nicht bloss Literatur von Männern», sagt etwa die Gymischülerin Elena aus Zürich. «Wir haben unsere Lehrerin mehrfach darauf hingewiesen, aber sie hat es ignoriert, und dies, obwohl sie es doch in der Hand hätte, auch weibliche Perspektiven aufzuzeigen.»

Ähnlich sieht es Svenja aus dem Aargau, die mittlerweile eine Lehre macht und in ihrer Freizeit sehr gerne liest. Mit den Klassikern und den aus der Zeit gefallenen Texten, die sie im Deutschunterricht lesen musste, konnte sie nicht viel anfangen. Auch sie wünscht sich mehr aktuelle Themen und vielfältigere Stoffe. «Ein Viertel der Klasse hat die Bücher jeweils gelesen und die Aufträge gemacht, der Rest hat abgeschrieben oder im Internet Zusammenfassungen gelesen», sagt sie. Ihre Klasse ist damit wohl kein Einzelfall. Auch die Pisa-Studie zeigt, dass die Lesefreude bei Jugendlichen jedes Jahr abnimmt.

Lehrpersonen sind sich der Unbeliebtheit gewisser Schullektüre bewusst. Sandra Hürzeler von der Sekundarschule Theobald Baerwart in Basel weiss damit umzugehen. «In einer Klasse kommen viele verschiedene Lesebiografien, -interessen und -kompetenzen zusammen. Um allen gerecht zu werden, versuche ich zu individualisieren», sagt sie. Sie bietet unterschiedliche Lesewege an wie Hörbücher, Zusammenfassungen oder Erklärvideos auf Youtube oder stellt je nach Schüler:in andere Aufgaben.

Vor kurzem las sie mit ihrer Klasse «Tintenherz», einen 2003 erschienenen Fantasyroman und Bestseller von Cornelia Funke. Ausserdem gehören auch «Krabat» oder «Tschick» in ihr Repertoire. Der Diogenes-Verlag empfiehlt als moderne Schullektüre aus dem eigenen Haus Benedict Wells’ «Hard Land» und die Werke der für den Schweizer Buchpreis nominierten Simone Lappert.

Fehlende Plattformen

Die Stiftung Bibliomedia setzt sich für Leseförderung und die Entwicklung von Bibliotheken ein. Sie verleiht Klassensätze an Schulen, die sie nach Abschluss der Lektüre wieder zurückschicken können. Ihr Katalog wird jährlich mit ungefähr acht neuen Titeln ergänzt, die in Zusammenarbeit mit Leseförderungsinstitutionen und Schullektoraten ausgesucht werden. Dabei soll thematisch ein möglichst breites Spektrum abgedeckt werden.

Letztlich sind es aber die Lehrpersonen, die entscheiden, was gelesen wird. Tatsächlich seien moderne Jugendbücher wie «Tschick» gefragter als auch schon – bestellt würden jedoch noch immer oft die gleichen Klassiker: So muss die Stiftung regelmässig neue Sätze von Dürrenmatts oder Max Frischs Werken anschaffen, Bücher, die ursprünglich für ein erwachsenes Publikum verfasst wurden.

Das seit Jahren am meisten bestellte Jugendbuch bei Bibliomedia ist «Löcher. Die Geheimnisse von Green Lake» von Louis Sachar, das bereits 1998 aus dem Englischen übersetzt auf Deutsch erschienen ist. Es mag irritierend wirken, dass es eine über zwanzig Jahre alte Übersetzung so oft ins Klassenzimmer schafft, aber kaum ein Schweizer Jugendbuch. Dabei böten zeitgenössische Schweizer Jugendbücher nicht nur das Potenzial, sich mit hiesigen Lebenswelten zu identifizieren, sondern auch die Gelegenheit, die Autor:innen für Schullesungen einzuladen.

«Jugendbücher haben in der Schweiz zu wenig Plattformen. In den Medien werden sie praktisch nie besprochen – und wenn, dann sind es Übersetzungen aus den USA», kritisiert Jugendbuchautor und Verleger Stephan Sigg. Neben der fehlenden medialen Präsenz sieht er als weiteres Problem, dass das Jugendbuch in der Schweiz nicht ernst genommen werde. Es werde zu elitär gedacht. Und Sigg ergänzt: «Es gibt in der Schweiz heute praktisch keine Verlage mehr, die Jugendbücher in ihrem Programm haben.»

Gemeinsam mit Alice Gabathuler und Tom Zai hat er den Da-Bux-Verlag gegründet. Spezialisiert auf Schullektüre, erscheinen jährlich vier Bücher, die sich sprachlich und inhaltlich an den Lebensrealitäten der Jugendlichen orientieren. Sie stammen aus der Feder von Schweizer Autor:innen wie Petra Ivanov, Franco Supino, Katja Alves oder Romana Ganzoni. Der Verlag legt einen Fokus auf leichte Sprache, um auch für Leseschwache ein Angebot zu haben, und bietet Unterrichtsmaterialien und Lesungen an.

Autor:innen touren

Mitverlegerin und Autorin Alice Gabathuler hat mit ihrem Jugendkrimi «Blackout» 2013 eines der meistgelesenen Schweizer Jugendbücher auf der Sekundarstufe 1 (Zwölf- bis Fünfzehnjährige) geschrieben. Wie andere Autor:innen aus dem Verlag tourt sie jedes Jahr durch die Schweiz und hält Lesungen in Klassen ab. Sigg beschreibt die Zusammenarbeit mit Lehrpersonen als äusserst bereichernd, viele seien offen für neue Ideen und suchten Wege, ihre Schulklassen zum Lesen zu motivieren. Da Bux füllt eine Lücke mit seinem Programm und verbucht Erfolge.

Und doch fühlt sich Sigg zu wenig ernst genommen: «Es ist fatal, dass bei vielen Institutionen das Bewusstsein dafür fehlt, wie stark verbreitet Leseschwäche ist – und weiter zunimmt», sagt er und kritisiert die Kulturförderpolitik: «Im Unterschied zu Büchern für Erwachsene ist es kaum möglich, Förderbeiträge für Jugendbücher zu bekommen.» Hier zeige sich eine Ignoranz gegenüber der Jugendliteratur sowie den Jugendlichen. «Dabei sind das die Leser:innen von morgen.» Das, so ist er überzeugt, sollte der ganzen Kulturbranche zu denken geben.

Josia Jourdan (21) ist Kulturjournalist und Booktoker. 

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Kommentare

Kommentar von grapo

Do., 15.02.2024 - 09:18

Toll, freue mich schon auf die nächsten Artikel, merci!