Haushaltsstreit in Deutschland: Aus der Zeit gefallen

Nr. 48 –

Im deutschen Etat klafft ein Loch von sechzig Milliarden Euro. Im Streit darüber geht es nicht nur um Zahlen, sondern weit mehr um Ideologie: Welche Wirtschafts- und Sozialpolitik braucht das Land?

«Es gibt keinen Grund zur Panik.» Mit diesem Satz liess sich Christian Lindner, deutscher Finanzminister der liberalen FDP, Ende November in einem «Handelsblatt»-Interview zitieren. Anlass war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, das kurz zuvor faktisch das Aus für den Haushaltsentwurf der Ampelregierung für 2024 verkündet hatte – ein Paukenschlag zum Jahresende für die ohnehin krisengeschüttelte Koalition aus Sozialdemokrat:innen (SPD), Grünen und Liberalen. Schon bald machte der Begriff der «Staatskrise» die Runde.

Dabei bezog sich die Klage, die 197 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim obersten deutschen Gericht eingereicht hatten, zunächst «nur» auf den sogenannten Klima- und Transformationsfonds (KTF), ein staatliches Finanzierungsinstrument, mit dem die Energiewende und der Umbau der deutschen Wirtschaft hin zu klimaneutraler Produktion gestemmt werden sollen. Mit einem haushalterischen Trick hatte die frisch gewählte Regierung das Volumen des KTF im Herbst 2021 per Nachtragshaushalt mit einem Schlag um 60 Milliarden Euro mehr als verdoppelt – auf 102,6 Milliarden. Diese Milliarden waren ursprünglich für Coronahilfen vorgesehen, aber nicht abgerufen worden. Die Umbuchung, so urteilte nun das oberste Gericht, verstosse gegen die Regeln der Schuldenbremse, weil die Mittel nicht mehr eindeutig zur Überwindung einer Notsituation (Corona) genutzt würden.

Schnell gerieten damit auch zwei andere Sondervermögen des Bundes in den Fokus. So sperrte die Bundesregierung wenige Tage nach dem Urteilsspruch vorsorglich den nach dem russischen Angriffskrieg aufgelegten Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF). Verfassungsrechtlich geprüft werde ausserdem ein Aufbauhilfefonds, der nach der Flutkatastrophe von 2021 den Wiederaufbau im Ahrtal finanzieren soll. Für das laufende Jahr wurde mittlerweile ein Nachtragshaushalt beschlossen, mit Verweis auf eine Notlage. Die Schuldenbremse ist damit rückwirkend für 2023 ausgesetzt. Der Haushaltsentwurf für 2024, der am 1. Dezember verabschiedet werden sollte, ist nach dem Urteil in weiten Teilen hinfällig.

Wann ein neuer Entwurf zur Abstimmung steht und wie das Milliardenloch gestopft werden soll, ist bislang unklar – und höchst umstritten. Denn das Karlsruher Urteil hat auch die Glocke für einen erneuten ideologischen Schlagabtausch zwischen den ungleichen Ampelpartnern geläutet.

Für Chips, Batterien und Chemie

«Es wäre eine schlechte Nachricht», so positionierte sich Christian Lindner, «wenn das Wohl und Wehe der deutschen Wirtschaft von Subventionen des Staates abhängen würde.» Der liberale Finanzminister machte damit klar, dass er trotz des Haushaltslochs an der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form festhält. Mit seiner Äusserung spielte er zudem auf ein Herzensprojekt des grünen Klima- und Wirtschaftsministers, Robert Habeck, an: die staatliche Förderung eines klimagerechten Umbaus des industriellen Sektors. Erst im Oktober hatte Habeck eine Industriestrategie vorgestellt, in der er sich nicht nur für eine geplante Ansiedlung neuer Industriezweige, beispielsweise Chipherstellung, Elektromobilität oder Batterieproduktion, starkmacht. Er möchte auch die alten energieintensiven Branchen wie die Chemieindustrie unbedingt erhalten und bei ihren Umbaubemühungen staatlich weiter fördern.

Viele der Mittel, deren Auszahlung nun auf der Kippe steht, waren für ebensolche Projekte eingeplant, etwa für eine Gigafabrik des schwedischen Batterieherstellers Northvolt in Grünheide in Brandenburg, für die Umrüstung des Thyssenkrupp-Werks in Duisburg auf die Produktion von «grünem Stahl» oder die Ansiedlung des Chipherstellers Intel in Magdeburg. Dieser sollte insgesamt zehn Milliarden Euro staatliche Fördermittel erhalten, davon drei aus dem KTF. Auch Volkswagen, Siemens, Arcelor Mittal, die Deutsche Bahn sowie viele mittelständische Unternehmen sollten vom Fonds profitieren. Während Thyssenkrupp bereits eine offizielle Förderzusage erhalten hatte und damit einen Anspruch auf die Mittel geltend machen kann, gibt es im Fall Intel bislang nur politische Willensbekundungen, man wolle die Versprechen halten.

So heizt die Haushaltskrise die Diskussion um die Schuldenbremse wieder an, denn schon lange gibt es Kritik an dem austeritätspolitischen Instrument – nicht nur von Gewerkschaften, linken Ökonom:innen und Sozialverbänden, auch von weiten Teilen der Grünen und der SPD. Sogar einige CDU-­­­­­­­Ministerpräsident:innen fordern eine Reform.

Staatliche Schulden, so das Kernargument dieser Kritiker:innen, brauche es, um Investitionen anzulocken. Dies sei umso dringlicher angesichts der wirtschaftlichen Aufholjagd Chinas, von geopolitischen Spannungen, gestiegenen Energiekosten und Rohstoffkonkurrenz. Der schwächelnde Standort Deutschland drohe sonst abgehängt zu werden, nicht zuletzt, weil Subventionen längst zum staatlichen Rüstzeug im globalen Konkurrenzkampf geworden sind – siehe etwa den Inflation Reduction Act in den USA. Die Schuldenbremse sei schlicht «aus der Zeit gefallen».

Kritik an der Schuldenbremse

SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Habeck geht es bei der Forderung nach einer Lockerung der Schuldenbremse – anders als linken Kritiker:innen – in erster Linie um Wirtschaftswachstum, nicht etwa um den Ausbau des Sozialstaats. Im Unterschied zu Lindner sind sie bereit, dafür Milliarden an Steuergeldern zu investieren. Lindner, ein Marktradikaler durch und durch, will derweil den Standort Deutschland durch Steuersenkungen für Unternehmen, Bürokratieabbau und bessere Verfügbarkeit von Fachkräften attraktiver machen. Schon vor der aktuellen Krise hat die FDP im Chor mit der CDU/CSU und der AfD dafür plädiert, den Sozialstaat «unattraktiver» zu machen und die Menschen so «in Arbeit zu bringen». Der von Lindner eingebrachte Haushaltsentwurf für 2024 sah ohnehin drastische Kürzungen vor, vor allem bei Sozial- und Bildungsprojekten. Diesen Weg möchte er nun umso konsequenter weiterbeschreiten.

Während SPD und Grüne also über eine investitionsfreundliche Reform der Schuldenbremse diskutieren wollen, tritt der Koalitionspartner FDP gemeinsam mit weiten Teilen der CDU und der rechtsradikalen AfD für noch härtere soziale Kürzungen und Einsparungen in allen Bereichen ein, um das Haushaltsloch zu stopfen. Wohin diese erneute Zerreissprobe das Ampelbündnis führt, ist aktuell schwer absehbar: Während es der Grünen-Spitze auf ihrem Parteitag Ende November gelang, die Basis im ungebrochenen Regierungswillen zu vereinen, steht in der FDP eine Mitgliederbefragung über den Verbleib in der Ampel noch aus. Lindner müsse jetzt den Bruch mit der Koalition riskieren, so meinen viele FDP-Mitglieder: im Namen des freien Marktes.

Linke im Dilemma

Die Linkspartei bleibt in der Debatte bisher eher ruhig, was nicht nur daran liegen dürfte, dass sie nach der Abspaltung des Wagenknecht-Flügels mit sich selbst beschäftigt ist. Sie befindet sich schon seit längerem in einem Dilemma: Weite Teile der Partei befürworten die Industriesubventionen, auch und gerade für die «alten» Industrien, die Chemiebranche, die Metall- und Elektroindustrie und den Automobilbereich. Denn es sind diese Branchen, in denen die Gewerkschaften ihre stärksten Bastionen haben. So demonstrierten nach dem Urteil rund 10 000 Beschäftigte der Stahl-, Metall- und Chemieindustrie für den Erhalt des Industriestrompreises und die Einhaltung von Investitionsversprechen. Zugleich tragen ebendiese Branchen bislang kaum etwas zu einem ökologischen Umbau der Wirtschaft bei – im Gegenteil: Sie verschleppen diesen seit Jahren.

Dabei wäre eine laute linke Stimme in der aktuellen Debatte wichtiger denn je. Denn schon jetzt ist klar, wer die höchsten Kosten dieser «Staatskrise» zu tragen haben wird: Es sind nicht die Unternehmen, die in den vergangenen Jahren Milliardengewinne eingefahren haben und die immer dann mit Standortverlagerungen drohen, wenn die Politik nicht auf ihre Forderungen eingeht. Es sind jene Menschen, die auf das zunehmend löchrige soziale Hilfesystem dringend angewiesen sind – und die nun weitere drastische Einschnitte zu befürchten haben.