Deutsche Wirtschaft: Lindner geht voran

Nr. 15 –

Überall heisst es, der deutschen Wirtschaft gehe es richtig schlecht. So einfach ist es nicht – doch die Ampel folgt ihrem Finanzminister und will nun erst mal Steuern senken.

Symbolbild: ein Mercedes-Stern wird auf einem Auto montiert
Der Stern glänzt: Die angeblich krisengeschüttelte deutsche Automobilindustrie konnte letztes Jahr ­Rekordgewinne einfahren. Foto: Ralph Orlowski, Reuters

Deutschland rückt in der Rangliste der Volkswirtschaften einen Platz vor: Nach China und den USA hat es nun das drittgrösste Bruttoinlandsprodukt (BIP). Verfolgt man die Medienberichterstattung, scheint sich jedoch ein tiefer Abgrund vor dem Land aufzutun: Deutschlands einst so starke Wirtschaft schwächele, der Wohlstand sei in Gefahr, sagen viele Ökonom:innen.

Fakt ist: Im letzten Jahr erlebte Deutschland eine Rezession, also einen Rückgang des BIP – um 0,3 Prozent. Viele Wirtschaftsinstitute und selbst die notorisch optimistische Bundesregierung rechnen für 2024 allenfalls mit niedrigen Zuwächsen.

Die mauen Prognosen sind formal gut begründet: So sind die Exporte, «Motor» des Wachstums in Deutschland, im letzten Jahr um zwei Prozent zurückgegangen. Die Wirtschaft steht zudem unter erheblichem Transformationsdruck, denn die Industrie ist auf die Anforderungen eines «klimaneutralen» Umbaus noch immer schlecht vorbereitet. Auch bei den Investitionen in Infrastruktur und neue Technologien hinkt das Land hinterher, und es fehlen Fach- und Arbeitskräfte. Jene Branchen, die einst tragende Säulen des «Modells Deutschland» waren, die Automobil-, die Maschinenbau- und die Chemieindustrie, klagen schon seit Monaten über Auftrags- und Umsatzrückgänge, ebenso die Digital- und die Elektroindustrie.

Bald ein Naturschutzreservat?

China hat die deutsche Wirtschaft dabei gleich mehrfach ausgebremst: Zum einen konkurriert die Volksrepublik mit Deutschland erfolgreich um Weltmarktanteile bei Autos und Maschinen oder im Chemiebereich. Zugleich schwächelt die chinesische Wirtschaft, nicht zuletzt aufgrund der dortigen Immobilienkrise. Weil China für viele deutsche Unternehmen nicht nur ein wichtiger Produktionsstandort, sondern auch Absatzmarkt ist, trübt das hierzulande ebenfalls die Stimmung. Zum anderen zeigt sich die deutsche Wirtschaft wegen der sich zuspitzenden geopolitischen Konflikte besorgt, etwa mit Blick auf denjenigen zwischen China und Taiwan: Käme es zum Krieg, würde aus dem «De-Risking» – einer politisch forcierten Reduzierung der Abhängigkeit von China – schnell ein weitgehender Rückzug, Stichwort Russland. Die gegenseitigen Handelsbeziehungen würden wohl weitgehend zum Erliegen kommen.

Allgemein gilt: In einem geopolitischen Umfeld, das von Konflikten geprägt ist, geraten vormals stabile Produktions- und Lieferbeziehungen aus dem Gleichgewicht – eine schlechte Nachricht für die exportabhängige deutsche Wirtschaft.

Vor diesem Hintergrund haben in den vergangenen Monaten etliche Unternehmen medienwirksam verkündet, das Vertrauen in den Standort Deutschland verloren zu haben. Das Szenario eines deindustrialisierten Deutschland wird deshalb heftig diskutiert. Wenn sich die Bundesregierung jetzt nicht zusammenreisse, wagte etwa Arndt Kirchhoff, Präsident der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen, eine verstörende Prognose, werde Deutschland bald «ein Naturschutzreservat» sein. Tatsächlich waren schon 2022 125 Milliarden Euro mehr Direktinvestitionen aus Deutschland abgeflossen, als im Land investiert wurden – der stärkste Abfluss seit fünfzehn Jahren. Dazu passt, dass 2023 ein Drittel von hundert in einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) befragten Unternehmen angaben, über Produktionsverlagerungen nachzudenken.

Weder die Kritik am Standort Deutschland noch Produktionsverlagerungen ins Ausland sind allerdings neu. Osteuropa etwa gilt längst als der günstige Hinterhof der deutschen Industrie. Etliche Unternehmen betreiben Werke in Polen, Tschechien oder Rumänien, um Lohn- und Produktionskosten sowie Steuern zu sparen, oder um «bürokratische Hürden» wie etwa Umweltauflagen zu umgehen. Die Produktion wird aber auch verlagert, um neue Märkte zu erschliessen, in der Vergangenheit vor allem nach China. Der Autohersteller VW macht fast vierzig Prozent seines Umsatzes in der Volksrepublik. Die neoliberale Globalisierung seit den 1970er Jahren hat dem Kapital den Weg dafür frei gemacht, Produktionsstandorte nach Profitabilitätsgesichtspunkten auszusuchen. Unter diesen Bedingungen ist das Drohen mit Abwanderung zu einem eingeübten Ritual geworden – um die Politik zu Zugeständnissen zu bewegen oder Lohnforderungen zurückzuweisen, auch in wirtschaftlich guten Zeiten. Dass nun etliche deutsche Unternehmen laut über Verlagerungen nachdenken, heisst also nicht, dass sie das auch tun.

Richtig ist jedoch auch, dass die Industrieproduktion in Deutschland seit 2018 vor allem in den vormals starken Industriebranchen, der Auto-, der Metall- und der Maschinenbauindustrie, deutlich gesunken ist – in der energieintensiven Chemieindustrie sogar um zwanzig Prozent. Der «Energiepreisschock» infolge des Ukrainekriegs setzte dieser besonders zu.

Steuern senken mit Habeck

Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung ist mit über zwanzig Prozent aber immer noch deutlich höher als in der Europäischen Union insgesamt (sechzehn Prozent). Und: Bislang gehen gesamtwirtschaftlich betrachtet noch keine Stellen verloren, es sind sogar so viele Menschen beschäftigt wie noch nie. In manchen Sektoren werden Arbeitsplätze abgebaut, in anderen entstehen neue, vor allem in der IT und der Elektroindustrie. Dass in Deutschland Industriesektoren erodieren, bedeutet also nicht, dass das Land in einem Prozess der Deindustrialisierung steckt.

Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck hat sich dennoch gänzlich dem Narrativ vom untergehenden Standort angeschlossen. Dass man die Unternehmen in dieser Situation steuerlich entlasten müsse, darüber ist er sich mit FDP-Finanzminister Christian Lindner mittlerweile einig. Habeck erhofft sich davon, dass mehr Geld in Investitionen fliesst – ein klassisches Argument aus dem Repertoire angebotsorientierter, neoliberaler Wirtschaftspolitik. Dabei ist das Niveau der Besteuerung in Deutschland gar nicht so hoch, wie von den Unternehmen gerne kolportiert wird. Aufgrund diverser Ausnahmen liegt der Satz real bei rund zwanzig Prozent – und damit innerhalb der EU im Mittelfeld.

Dass sich ausgerechnet der Grünen-Politiker Habeck nun leidenschaftlich für weitere Steuersenkungen einsetzt, zeigt, wo die Reise wirtschaftspolitisch noch hingehen könnte. Bis Mitte November 2023, bis zu einem richtungsweisenden Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das zur Einhaltung der Schuldenbremse mahnte und einen Nachtragshaushalt für verfassungswidrig erklärte, hatte es in der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP einen Kompromiss gegeben: Finanzminister Lindner konnte seinem Sparfetisch frönen – ausgenommen beim Militär –, und Sozialdemokrat:innen und Grüne konnten über Sonderfonds und Umschichtungen insbesondere in den Klimaschutz investieren. Nach dem Urteil zeichnete sich schnell ab, dass eine Reform der Schuldenbremse politisch nicht durchsetzbar ist. Stattdessen gelte es nun, so formulierte es Lindner, «eine andere Form der Wirtschaftsförderung zu stärken – und die heisst Marktwirtschaft».

Mit dem sogenannten Wachstumschancengesetz hat die Ampel nun ein erstes Steuersenkungspaket für Unternehmen auf den Weg gebracht. Um es am Widerstand der CDU vorbeizubringen, die mit der Landwirtschaft eine ihrer Kernklientelen nicht ausreichend berücksichtigt sah, schluckte Habeck sogar die Kröte, auf eine geplante Investitionsprämie für Klimaschutzmassnahmen zu verzichten.

Die Neoliberalen alter Schule in der FDP, aber auch in der oppositionellen CDU gewinnen damit weiter an Oberhand. Nach einer langen Phase, beginnend mit der Finanzkrise 2008/09, in der der deutsche Staat die Wirtschaft und den Konsum mit massiven Ausgaben stabilisierte, scheint es Christian Lindner nun gelungen, mit dieser keynesianischen Linie zu brechen.

Das Ziel von Habeck und Lindner ist indes dasselbe: Deutschland soll als wirtschaftliche Supermacht erhalten werden. Dabei funktionierte das auf Exporte beruhende «Modell Deutschland» jahrzehntelang auf Kosten der Nachbarländer, die niederkonkurriert wurden. Und es ging auf Kosten der Umwelt. Deutschland als Teil des frühindustrialisierten Globalen Nordens hat einen hohen Anteil an den Treibhausgasemissionen.

Der Druck in Richtung einer beschleunigten ökologischen Transformation der Wirtschaft dürfte nun abnehmen, wenn sich der Staat noch weiter zurückzieht. Für die meisten Unternehmen gibt es wenig Anlass, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken.

Börsengewinnerin Rheinmetall

Laut der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young konnten zwei Drittel der hundert grössten deutschen Unternehmen in den ersten drei Quartalen 2023 ihren Umsatz steigern und Gewinne auf Rekordniveau erzielen, ganz vorne dabei die angeblich krisengeschüttelte Automobilindustrie. Volkswagen, Mercedes und BMW fuhren zwischen vierzehn und sechzehn Milliarden Euro Gewinn ein. Und die Börsenkurse – stets eine Wette auf die Zukunft – kannten zumeist nur eine Richtung: nach oben. Insgesamt rund 52 Milliarden Euro Dividenden haben die vierzig Dax-Unternehmen 2023 an ihre Aktionär:innen ausgeschüttet.

Hier zeigt sich auch, dass Umstrukturierungen wie etwa Standortschliessungen oder Stellenstreichungen aus Unternehmenssicht kein Beinbruch sind, im Gegenteil: Sie sind immer das Mittel der Wahl, um Kosten zu sparen und damit die Gewinne nach oben zu treiben. Und zwar nicht im Interesse des Standorts Deutschland, sondern im Interesse der jeweiligen Unternehmen. Ausserdem hat die Politik in den vergangenen Monaten bereits vieles unternommen, um für die Unternehmen den Standort so attraktiv wie möglich zu machen, damit sie nicht abwandern. Mit enormem Druck hat sie erweiterte «Energiepartnerschaften» mit Saudi-Arabien oder Aserbaidschan vorangetrieben, um günstiges Öl und Gas für die Industrie zu beschaffen; sie hat Vereinbarungen im Bereich der Rohstoffförderung abgeschlossen, in Argentinien und in Chile etwa, wo grosse Lithiumvorkommen lagern; sie hat eine Fachkräftestrategie verabschiedet und in Thailand und Vietnam um gut ausgebildete Kräfte geworben; die Unternehmen haben von Subventionen auf EU-Ebene und bis zum «Haushaltsstreit» in noch grösserem Umfang von staatlichen Milliardensubventionen der Bundesregierung profitiert, die etwa die Energiepreise unten hielten. Und nicht zuletzt boomt die deutsche Rüstungsindustrie dank der forcierten Aufrüstung in diesen krisenhaften Zeiten. Rheinmetall gehört zu den absoluten Gewinnern an der deutschen Börse.

Am Ende haben die deutschen Unternehmen also genau von dieser «miesen Stimmung im Land» profitiert, die die Politik spätestens seit der Coronapandemie in einen ungeahnten wirtschaftspolitischen Langzeitaktionismus getrieben hat und die es den Unternehmen bis heute möglich macht, die Regierung vor sich herzutreiben. Um die Unternehmen muss sich also niemand Sorgen machen. Besorgniserregend ist eher, wo diese Wirtschaftspolitik hinführen wird.