UNRWA: «Wo bleibt die kollektive Empörung?»

Nr. 13 –

Gaza drohe zum Schandfleck der Weltgemeinschaft zu werden, sagt Philippe Lazzarini, der Chef der UNRWA. Der Schweizer Diplomat über hartnäckige Vorwürfe an das Palästinenser:innenhilfswerk und die Frage, ob Israel Hunger als Kriegswaffe einsetze.

Philippe Lazzarini am 4. März vor der Uno-Generalversammlung in New York
«Wir befinden uns auch in einem Informationskrieg»: Philippe Lazzarini, hier am 4. März vor der Uno-Generalversammlung in New York. Foto: Lev Radin, Imago

WOZ: Philippe Lazzarini, seit fünf Monaten warnen Sie mit drastischen Formulierungen vor den katastrophalen Entwicklungen in Gaza. Gibt es überhaupt noch Worte, um das Grauen dort zu beschreiben?

Philippe Lazzarini: Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist neben dem Schrecken des Krieges, der in den letzten fünf Monaten stattgefunden hat, vor allem die drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Vor einer Woche erschien der IPC-Expertenbericht zum Ausmass der Unterernährung, und das Ergebnis ist erschütternd. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Menschen sterben bereits an Hunger oder Durst. Und das alles geschieht unter den Augen der Weltgemeinschaft. Niemand kann behaupten, nichts davon mitbekommen zu haben. Sogar der Internationale Gerichtshof forderte Ende Januar Israel, die internationale Gemeinschaft und die humanitären Organisationen auf, die Massnahmen deutlich zu verstärken, um irreparable Schäden zu vermeiden. Die Frage ist also, welche Worte wir verwenden sollten, damit das Unerträgliche nicht erträglich wird.

Ist es das vielleicht schon – ist das Unerträgliche erträglich geworden?

Es stellt sich tatsächlich die Frage, wo die kollektive Empörung bleibt, unser kollektives Mitgefühl, um eine Situation zu vermeiden, die mehr und mehr zu einem Schandfleck für die Weltgemeinschaft wird. Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Gründe dafür sind meines Erachtens in einer Entmenschlichung zu suchen. Und diese Entmenschlichung ist auf einen Mangel an Empathie zurückzuführen. Wie könnten wir sonst erklären, was sich da abspielt? Und dass es uns immer noch nicht gelungen ist, die Lage zu verbessern?

Kann eine Hungersnot überhaupt noch abgewendet werden, oder ist es dafür schon zu spät?

Die Hungersnot kann noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Es gibt einen offenen Landübergang. Sobald Lebensmittelkonvois ununterbrochen, ungehindert und auf sinnvolle Weise in den Gazastreifen gelangen können, bringt das die Trendwende. Wir haben es in Gaza nicht mit einer langsam einsetzenden Hungersnot wie etwa in der Sahelzone zu tun, wo es aufgrund der Kombination von Konflikten und Klimaveränderung, Dürre oder Missernten viel schwieriger ist, etwas dagegen zu unternehmen. In der Weltregion, wo Gaza liegt, hat es in der Vergangenheit noch nie Hunger in diesem Ausmass gegeben.

Setzt Israel Hunger absichtlich als Kriegswaffe ein?

Ich weiss nicht, ob dahinter eine Absicht steht. Zu Beginn des Krieges äusserte sich das israelische Kriegskabinett sehr klar: Es würde eine totale Belagerung geben, und keine Güter würden in den Gazastreifen gelangen. Das galt dann während einiger Wochen und führte zu einer Krise, weil die Zufuhr von Treibstoff für Bäckereien oder Spitäler wichtig war. Dann lockerte sich das Regime etwas, und einige Tankwagen gelangten nach Gaza. Das war ein grosser Erfolg. Aber es war natürlich viel zu wenig. Schon vor dem 7. Oktober unterlag der Gazastreifen einer Blockade, aber damals gelangten im Durchschnitt 500 Lastwagen pro Tag hinein. Und zu dieser Zeit gab es einen funktionierenden Markt und einen privaten Sektor. Heute haben sie absolut nichts mehr davon. Ist all das nun beabsichtigt oder nicht? Klar ist, dass sich die israelische Regierung der Auswirkungen der Belagerung vollständig bewusst ist. Wenn es so weitergeht, werden die Menschen eher wegen der Auswirkungen der Belagerung sterben als wegen der Militäroperation.

Letzte Woche wollten Sie nach Gaza einreisen und wurden von den israelischen Behörden daran gehindert. Was war der Grund dafür?

Ich weiss es nicht, mir wurde kein Grund genannt. Ich wollte mit einer UNRWA-Delegation nach Rafah reisen, und ausser mir durften alle einreisen. Seit dem 7. Oktober war ich viermal im Gazastreifen, um unsere Teams zu treffen und unsere laufende Operation zu unterstützen, nun wurde mir das zum ersten Mal verwehrt. Und es ist auch ein Novum, dass der Leiter einer Uno-Behörde und insbesondere der UNRWA an der Einreise gehindert wird.

Sie wurden faktisch zur Persona non grata erklärt.

Es geht nicht um mich, sondern um meine Funktion als Generalkommissar der UNRWA. Tatsache ist, dass die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu die UNRWA raus aus dem Gazastreifen und womöglich auch aus den besetzten palästinensischen Gebieten haben will. Ich habe die Mitgliedstaaten an der Uno-Generalversammlung gewarnt, was das angesichts der beispiellosen humanitären Notlage in Gaza bedeuten würde. Aber auch, was das Abwickeln der UNRWA für eine mögliche Übergangszeit nach einem Waffenstillstand heissen würde. Dann müssen wir wichtige Dienstleistungen wie den Schulunterricht für Hunderttausende Mädchen und Jungen schnell hochfahren, die jetzt schwer traumatisiert in Trümmern leben. Auch um zu verhindern, dass die Saat für künftigen Hass, Rache und Ressentiments aufgeht.

Warum bekämpft Israel die UNRWA so vehement?

Die UNRWA existiert jetzt seit 75 Jahren nur befristet. Das liegt daran, dass es keine politische Lösung für einen der am längsten andauernden ungelösten Konflikte gegeben hat. Und jetzt, wo diese seismischen Transformationen stattfinden mit dem beispiellos brutalen Ereignis vom 7. Oktober und dem beispiellos brutal geführten Krieg im Gazastreifen, könnte dies auch ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft sein, um diesen Konflikt anzugehen. Die Tatsache, dass er bis jetzt nicht gelöst wurde, hat auch zu der Situation geführt, in der wir uns heute befinden. Die Auflösung der UNRWA bevor es eine politische Lösung gibt, würde das Engagement der internationalen Gemeinschaft für eine Zweistaatenlösung untergraben.

Anschuldigungen gegen die UNRWA fallen in Europa und auch in der Schweiz auf fruchtbaren Boden, selbst wenn Belege fehlen. Überrascht Sie das?

Wir befinden uns auch in einem Informationskrieg. Gerade erschien ein faszinierender Artikel in der israelischen Tageszeitung «Haaretz», der aufdeckte, wie soziale Medien genutzt werden, um Desinformation zu verbreiten und die UNRWA zu diskreditieren. Aber ja, ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.

Die gravierendste Anschuldigung: Zwölf Ihrer Mitarbeiter hätten sich am Massaker der Hamas beteiligt.

Genau. Nachdem Israel diesen Vorwurf vor rund zwei Monaten erhoben hatte, hat eine Reihe von Ländern, etwa die USA oder Deutschland, die Finanzierung der UNRWA sofort ausgesetzt. Aber mittlerweile ist die Haltung zahlreicher Länder gekippt. Weil sie erstens gesehen haben, dass wir schnell Massnahmen ergriffen haben. Und zweitens, weil sich die Anschuldigungen bis heute nicht bewahrheitet haben. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Das ist einer der Gründe, warum Kanada, Australien, Schweden und weitere Länder ihre Position gegenüber der UNRWA überdacht und blockierte Mittel freigegeben haben. Andere Länder haben ihren Beitrag für das Hilfswerk sogar deutlich erhöht.

Entscheidend für eine ausreichende Finanzierung der UNRWA wird sein, zu welchen Schlüssen die unabhängige Untersuchung kommt. Eben erschien ein Zwischenbericht, und es ist vage die Rede von mehreren kritischen Punkten. Worum geht es?

Es geht primär darum, dass wir unsere internen Aufsichtsmechanismen verstärken und mehr in unsere Ermittlungskapazitäten investieren müssen. Das hängt natürlich stark mit den Ressourcen zusammen, die uns zur Verfügung stehen. Wenn wir beispielsweise unsere Anlagen im Gazastreifen stärker überprüfen sollen, brauchen wir dafür Personal.

Aber die UNRWA ist sicher diejenige Uno-Organisation, die heute schon am stärksten unter die Lupe genommen wird. Nennen Sie ein beliebiges Audit – wir haben sie alle. Wir werden von fast allen unseren Partnern regelmässig gründlich geprüft, und jedes Mal hat das Hilfswerk sehr gute Noten erhalten.

Auf wenig Gehör stossen Ihre Argumente in der Schweiz, wo Aussenminister Ignazio Cassis die Auszahlung von zwanzig Millionen Franken Jahresbeitrag blockiert. Vergibt sich die Schweiz damit auch die Möglichkeit, eine konstruktive Rolle zur Beendigung dieses Krieges zu spielen?

Die Schweiz als Hüterin der Genfer Konvention und mit ihrer humanitären Tradition kann sicherlich im Nahostkonflikt eine positive Rolle spielen. Aber das geht nur, wenn die Schweiz als unparteiischer oder neutraler Partner wahrgenommen wird. Sollte die Schweiz beschliessen, den Beitrag an eine Organisation wie die UNRWA einzustellen, mit der das Land eine langjährige Partnerschaft pflegt, würde dies negativ wahrgenommen werden. Als Zeichen, dass die Schweiz mehr Empathie für eine Seite zeigt. Auch deshalb hoffe ich wirklich, dass die Schweiz ihren Beitrag freigibt.

Aussenpolitische Kommission : Ein Skandal in Genf

Das Schweizer Parlament hat sich seiner humanitären Verantwortung entzogen. Jedenfalls die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats, die sich am Dienstag in Genf mit UNRWA-Chef Philippe Lazzarini traf. Dieser wollte das Vertrauen in seine Organisation wiederherstellen, die von Israels Regierung mit oft unbelegten Vorwürfen eingedeckt wird. Der Beitrag von zwanzig Millionen Franken an die UNRWA ist derzeit blockiert. Lazzarini scheiterte: Die bürgerliche Mehrheit in der Kommission entschied, dass vorerst kein Geld fliesst. Man wolle erst mit anderen Partnern sprechen. Damit gemeint ist unter anderem die rechte israelische Lobbyorganisation UN Watch, die seit langem gegen die UNRWA agiert.

Ein Skandal sei das, findet Claudia Friedl, St. Galler SP-Nationalrätin und am Treffen in Genf anwesend. «Wir lassen uns von Expert:innen beraten und nicht von Interessenvertretungen.» Schlimmer noch findet Friedl die Verantwortungslosigkeit, die im Handeln der Kommission zum Ausdruck komme: «Man ist sich nicht bewusst, dass in Gaza die Menschen verhungern.» Die Schweiz dürfe keinen Tag zögern, Hilfe zu leisten.

Es wurden dann auch allerhand Ideen gewälzt, wie man den Beitrag an die UNRWA sonst benutzen könnte. Beispielsweise indem Hilfsgüter per Flugzeug abgeworfen würden. Auch die Direktorin des Internationalen Roten Kreuzes, Mirjana Spoljaric Egger, wurde gedrängt, ihre Organisation solle die Aufgaben der UNRWA übernehmen. Das sei vollkommen realitätsfremd, beschied die IKRK-Chefin. Eine weitere Expert:innenmeinung, die von den bürgerlichen Aussenpolitiker:innen ungehört blieb.