Drohende Hungersnot in Gaza: Sehr bald ist es zu spät

Nr. 10 –

Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist seit Wochen katastrophal. Dennoch verhindert die israelische Armee bis heute systematisch, dass genügend Hilfsgüter die Menschen erreichen.

Menschen holen Mehl-Säcke von einem Lastwagen in Gaza City, Mitte Februar
Inzwischen gelangen gar keine Hilfsgüter mehr in den Norden: Ein Lastwagen mit Mehl Mitte Februar in Gaza City. Foto: Kosay Al Nemer, Reuters

Auf dem Foto ist Anwar Abdulnabi zu sehen, die sich über ihre Tochter Mila beugt. Das kleine Mädchen liegt in einem Bett im Krankenhaus, die Augen geschlossen. Mila ist tot.

Das Bild, das ein Fotograf am letzten Samstag für die Nachrichtenagentur Reuters im Kamal-Adwan-Krankenhaus im Norden des Gazastreifens aufnahm, zeigt eines von mehreren Kindern, die in den letzten Tagen in Gaza offenbar an Mangelernährung gestorben sind. So berichtete es die Weltgesundheitsorganisation unter Berufung auf das lokale Gesundheitsministerium. Es sind die ersten bestätigten Meldungen dessen, wovor die Uno seit Mitte Dezember warnt: dass in Gaza, wenn nicht so schnell wie möglich viel mehr Hilfsgüter in das abgeriegelte Gebiet gelangten, innert weniger Monate eine Hungersnot ausbreche.

Vor Beginn dieses Krieges passierten jeden Tag 500 Lastwagen mit kommerziellen Waren und Hilfsgütern die Grenzübergänge. Nach den Massakern der Hamas am 7. Oktober verhängte die israelische Regierung zunächst eine vollständige Blockade über Gaza. Ab dem 21. Oktober liess sie zwar schrittweise wieder Lieferungen zu. Doch noch immer gelangt viel zu wenig humanitäre Hilfe nach Gaza. Im Februar lag die Zahl der Lastwagen, die täglich dorthin gelangten, bei knapp unter hundert. Das sind noch weniger als im Monat davor, auch weil Protestierende auf der israelischen Seite der Grenze seit Wochen versuchen, Hilfslieferungen zu blockieren.

Weder Datteln noch Tierfutter

Als Reaktion haben mehrere Regierungen, darunter die USA, angefangen, Hilfsgüter aus der Luft über Gaza abzuwerfen. Es ist die teuerste und ineffizienteste Art von Hilfslieferungen; das letzte Mittel, wenn alle anderen Wege blockiert sind. Doch die drohende Hungersnot können sie nicht abwenden.

Wie konnte es trotz aller Warnungen so weit kommen? Israelische Regierungsvertreter:innen weisen die Verantwortung von sich. Es gebe keine Obergrenze bei der Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen, schrieb etwa der israelische Regierungssprecher Eylon Levy Anfang Jahr auf X. Und der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schob die Schuld schon im November auf die Uno: Diese sei langsam und ineffizient.

Doch wenn man mit Vertreter:innen von Uno-Institutionen und Hilfsorganisationen spricht, ergibt sich ein anderes Bild. Nach ihren Schilderungen verhindern die israelischen Streitkräfte (IDF) systematisch, dass überlebensnotwendige Hilfsgüter jene halbe Million Menschen erreichen, die laut der Uno «noch einen Schritt von der Hungersnot» entfernt sind.

Einen Hilfskonvoi in ein Kriegsgebiet zu organisieren, ist immer eine komplexe Aufgabe. Hilfsorganisationen müssen mit den Kriegsparteien Zeitpunkt und Route koordinieren, um zu garantieren, dass sie nicht unter Beschuss geraten. Konvois brauchen durchgehend funktionierende Kommunikationsmittel. «Wir versuchen normalerweise, über Funkgeräte oder das Handynetz zu kommunizieren», sagt Jens Lærke vom Uno-Nothilfebüro für humanitäre Hilfe (OCHA). Doch in den letzten Monaten legten die IDF immer wieder das Funk- und Mobilnetz in Gaza lahm, manchmal über Tage. «Wenn wir nicht sicherstellen können, dass ein Konvoi sicher ist, dann können wir ihn nicht losschicken.»

Jeder Lastwagen, der die Grenze nach Gaza passieren will, wird zuvor von der israelischen Armee inspiziert. Wird ein einziges Objekt in einer Ladung abgelehnt, gehe der ganze Inspektionsprozess noch einmal von vorne los, so Lærke. «Hinzu kommt, dass wir häufig gar nicht wissen, welche Güter erlaubt sind und welche nicht.» Denn eine genaue Liste habe die Uno von den IDF nie erhalten. «Was erlaubt ist, ändert sich ständig.» Güter, die in der Vergangenheit passieren konnten, würden plötzlich abgelehnt, darunter Dinge wie Tierfutter, Entminungsgeräte, Solarpanels oder Datteln.

Die willkürlichen Inspektionen haben zwei Folgen: zum einen eine grosse Verzögerung der Hilfe, die insgesamt nach Gaza gelangt. Hunderte Lastwagen stehen seit Wochen auf der ägyptischen Seite vor dem Grenzübergang Rafah. «Alles, was Gaza braucht, steht direkt davor», sagt Camille Niel, Vizeleiterin der Ärzte-ohne-Grenzen-Mission (MSF) in den besetzten palästinensischen Gebieten. Zum anderen kommen zahlreiche Güter, die dringend gebraucht werden, nicht hinein. Seit Wochen versucht MSF, in einem Krankenhaus in Rafah zwei Operationssäle einzurichten. «Doch wir konnten die notwenigen Geräte nicht nach Gaza bringen.»

Ein Sack Reis für 25 Franken

Auch innerhalb von Gaza ist die Verteilung von Hilfsgütern enorm schwierig: wegen Strassen, die durch die schweren Panzer beschädigt sind, und Blindgängern, die nach Monaten des Krieges an vielen Orten liegen. In den Norden des Gazastreifens, der vom Süden fast komplett abgeriegelt ist, gelangen seit Wochen gar keine Hilfsgüter mehr. Hier leben noch immer Zehntausende. «Während im Süden des Gazastreifens ein Sack Reis teilweise 25 Franken kostet, gibt es im Norden gar keinen Reis mehr», sagt Camille Niel von MSF. Es gibt Berichte von Menschen, die Tierfutter zu Brot verarbeiten. Von Menschen, die Blätter essen, um zu überleben.

Zwischen Anfang Januar und Mitte Februar wurde nur die Hälfte der Konvois, die die Uno in den Norden von Gaza schicken wollte, bewilligt. Die Gründe, warum die IDF so viele Hilfllieferungen nicht durchlassen, teilen sie nicht mit. «Entweder heisst es einfach: Es wird nicht bewilligt. Oder wir erhalten gar keine Antwort», sagt Tamara Alrifai, Sprecherin des Uno-Palästinenser:innen-Hilfswerks UNRWA. Und selbst wenn ein Konvoi bewilligt wird, heisst das nicht, dass er durch den Checkpoint Wadi Gaza bis in den Norden gelangt. Denn grundsätzlich er muss zuerst den Süden passieren, wo sich die einzigen beiden geöffneten Grenzübergänge befinden und wohin über 1,5 der insgesamt 2,2 Millionen Bewohner:innen geflohen sind. Die Lage ist auch dort katastrophal. «Häufig werden Konvois von verzweifelten Menschen gestoppt, die die Lebensmittel abladen und direkt essen», sagt Jens Lærke. Was die Uno zudem seit zwei Wochen zunehmend beobachte, seien organisierte Gruppen, die die Hilfskonvois stürmten.

Normalerweise würden diese von palästinensischen Polizeikräften begleitet, um einen geregelten Transport der Hilfsgüter sicherzustellen. «Doch heute gibt es keine Polizeikräfte mehr, die die Konvois begleiten», so Lærke. Die öffentliche Ordnung sei nahezu zusammengebrochen. Und immer wieder kommen die Hilfslieferungen unter israelischen Beschuss. Anfang Februar etwa wurde ein Konvoi der UNRWA von der israelischen Marine beschossen.

«Es ist selten, wenn nicht beispiellos, dass es so schwierig ist, Hilfe zu leisten, während gleichzeitig die Not der Menschen so rapide wächst», sagt Lærke. Mittlerweile sei Gaza an einem Punkt angelangt, an dem eine Hungersnot, bei der die Menschen in grosser Zahl sterben, kaum noch zu verhindern sei – nicht nur an Unterernährung selbst, sondern weil die geschwächten Menschen selbst eine einfache Grippe oft nicht mehr überleben. «Man darf nicht darauf warten, bis die Hungersnot ausgerufen wird. Denn dann ist es schon zu spät», so Lærke. «Israel ist die Besetzungsmacht und muss sicherstellen, dass der Zugang zu Hilfe möglich ist.»