Erfolg der Klimaseniorinnen: Ein Zwischenhalt in Strassburg

Nr. 15 –

Am Dienstag gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einer Beschwerde der Klimaseniorinnen in weiten Teilen statt. Es ist ein wegweisender Entscheid für den Klimaschutz.

Anne Mahrer und Rosmarie Wydler-Wälti im Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Sie haben Grund, zu strahlen: Anne Mahrer (links) und Rosmarie Wydler-Wälti (rechts) vom Vorstand der Klimaseniorinnen nach der Urteilsverkündung am Dienstag. Foto: Yoshiko Kusano, Lunax

Zuerst herrschte allgemeine Verunsicherung. Hatten sie nun gewonnen oder nicht? Und wenn ja, wie sehr? Die juristische Fachsprache der Richterin, noch dazu auf Englisch, war für viele Laien und Nicht-Muttersprachlerinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Überforderung. Erst als der Vorstand der Klimaseniorinnen nach der Urteilsverkündung gemeinsam mit seinen Anwält:innen und Mitarbeiter:innen von Greenpeace die gewundene Treppe im Gerichtsgebäude in Strassburg hinabstieg, löste sich die Anspannung endlich in Jubel auf.

Das am Dienstag am EGMR verkündete Urteil ist ein historischer Erfolg. So kamen die Richter:innen, die den Fall begutachteten, zum Schluss, dass die Schweiz nicht genug zur Eindämmung der fortschreitenden Klimaerwärmung tue und so gegen die ihr aus der Europäischen Menschenrechtskonvention erwachsenden Pflichten verstosse. Der EGMR stellt damit erstmals einen Zusammenhang zwischen Klimaschutz und Menschenrechten her. Das Gericht rügte die Schweiz insbesondere für die Lücken in ihren Klimazielsetzungen. So habe die Schweiz etwa kein CO₂-Budget erstellt, das festlegt, wie viel das Land noch emittieren dürfte, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Gleichzeitig urteilte der EGMR, dass das Recht der Klimaseniorinnen auf ein faires Verfahren durch die Schweizer Instanzen verletzt worden sei.

Durch den Saharastaub

Damit, dass sich das Gericht so deutlich zugunsten der Klimaseniorinnen aussprechen würde, hatten im Vorfeld die wenigsten gerechnet. Die Seniorinnen selbst hatten es aber vielleicht geahnt: Einen Tag vor der Urteilsverkündung ist die Stimmung im Regionalzug von Basel nach Strassburg, in dem etwa zwanzig ältere Frauen und noch viel mehr Journalist:innen sitzen, jedenfalls freudig aufgeregt, ja fast euphorisch. Trotz des Wetters, das als Bestätigung für die Dringlichkeit ihres Anliegens interpretiert werden könnte: Die Temperaturen sind für Anfang April ungewöhnlich hoch, und der Himmel hängt dank des Saharastaubs gelbgrau über der elsässischen Landschaft.

Am Dienstag werden noch mehr der mittlerweile über 2500 Mitglieder des Vereins anreisen. Im Zug wird über das gesprochen, was eine am nächsten Tag erwartet, zwischendurch hört man einen Scherz, gefolgt von fröhlichem Lachen. Medienanfragen werden koordiniert. «Redest du jetzt mit der BBC?»

Abgelehnte Klagen

In zwei weiteren Fällen, die am Dienstag in Strassburg beurteilt wurden, sahen Kläger:innen ihre Menschenrechte aufgrund ungenügender staatlicher Klimapolitik verletzt – blieben jedoch erfolglos. Die Klage des Politikers Damien Carême gegen Frankreich war unzulässig, weil dieser nicht mehr am früheren Wohnort lebte, auf den sich seine Eingabe bezogen hatte.­ Auch die Klage einer Gruppe junger Portugies:innen, die ein Verfahren gegen dreissig europäische Staaten, darunter die Schweiz, angestrengt hatten, wurde abgelehnt. Sie hatten den Gang durch die Instanzen in Portugal übersprungen und waren direkt an den EGMR gelangt.

In einem Viererabteil erinnern sich drei Sankt-Gallerinnen an den Weg, der sie zu diesem Punkt führte, auf den sie mehr als acht Jahre hingearbeitet haben. Eine von ihnen ist Pia Hollenstein, die sagt, sie sei nervös, «aber im guten Sinn!» Die ehemalige Nationalrätin hat den Verein Klimaseniorinnen auf Initiative von Greenpeace im August 2016 mitgegründet (siehe WOZ Nr. 12/23). Nur wenige Monate später gelangten die Frauen zusammen mit vier Einzelklägerinnen an den Bundesrat, das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) und weitere Ämter. In ihrem Begehren forderten sie die Behörden auf, mehr für den Klimaschutz zu tun, und argumentierten, als ältere Frauen überproportional stark von den Folgen des Klimawandels betroffen zu sein.

Das Uvek trat aus formalen Gründen nicht auf die Beschwerde der Klimaseniorinnen ein, woraufhin der Verein mit seinem Anliegen erfolglos durch alle Instanzen zog. Schliesslich gelangten die Klägerinnen an den EGMR, der den Fall im März 2021 als prioritär einstufte. Gemeinsam mit zwei Klagen aus Portugal und Frankreich (vgl. «Abgelehnte Klagen») gehört die Beschwerde der Klimaseniorinnen zu den ersten Klimafällen, mit denen sich der Gerichtshof je befasst hat. Das erklärt das grosse internationale Interesse: Es war von vornherein klar, dass das Verdikt des Gerichts nicht nur Auswirkungen auf die Schweiz, sondern auch auf Europa und darüber hinaus haben könnte. Immer wieder beziehen sich Gerichte auf der ganzen Welt auf EGMR-Entscheide.

Revolution in der Rechtsprechung

«Der heutige Entscheid ist eine unglaubliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung», sagt auch Cordelia Bähr im Anschluss an die Verhandlung. Sie ist die leitende Rechtsanwältin der Klimaseniorinnen und vertritt diese seit Beginn. Bähr betont, dass der an diesem Tag gefällte Entscheid als Leiturteil gilt. Was bedeutet, dass sich Klimakläger:innen in Europa künftig darauf beziehen können. «Die Gerichte der Europaratsstaaten müssen die Urteile des EGMR bei ihren Entscheiden über Verletzungen von Konventionsrechten berücksichtigen», so Bähr.

Als bemerkenswert erachtet die Anwältin auch die Änderung der bisherigen Rechtsprechung in Bezug auf die Opfereigenschaften. Während die vier Einzelklägerinnen diese laut Gericht nicht erfüllten, tat es dafür der Verein der Klimaseniorinnen. Diesen Aspekt hält auch die Völkerrechtsprofessorin und ehemalige EGMR-Richterin Helen Keller für bahnbrechend: «Das Urteil stärkt damit die Rolle von Umweltverbänden und -vereinen bei Klimaklagen.» Gleichzeitig bleibe das Gericht in Bezug auf den Nachweis persönlicher Betroffenheit von Kläger:innen streng.

Nichts mit Zurücklehnen

«Wir werden das Urteil noch detailliert analysieren», sagt derweil Georg Klingler, Klimaexperte von Greenpeace, «aber zuerst werden wir feiern!» Fast ein Jahrzehnt ist es her, dass Klingler die Idee zur Klimaklage der Seniorinnen hatte. Entsprechend glücklich ist er nun. Für ihn ist insbesondere wichtig, dass die Schweiz im Urteil dazu verpflichtet wird, bei den Klimazielen nachzubessern – und dies basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen tun muss. «Das könnte global einen unglaublichen Effekt haben.» Läutet das Urteil das Ende zahnloser Absichtserklärungen in der Klimapolitik ein?

Zunächst müsse man nun schauen, wie die Schweiz reagiere, sagt Klingler. «Ich gehe davon aus, dass die Implementierung des Urteils zivilgesellschaftlichen Druck brauchen wird.» Wie schnell Behörden und Politiker:innen konkrete Massnahmen ergreifen werden, ist unklar. Davon, dass die Schweiz gar nichts tut, ist aber nicht auszugehen, denn als Unterzeichnerin der Menschenrechtskonvention ist sie verpflichtet, die Entscheide des EGMR zu befolgen. Der Vollzug der Urteile wird durch das Ministerkomitee des Europarats überwacht. Dass Greenpeace in Zukunft weitere Klimaklagen unterstützen wird, hält Klingler für wahrscheinlich. Er verweist zudem auf laufende Verfahren und Initiativen, etwa die einer Gruppe von Schweizer Bäuer:innen, die den Bund dazu auffordern, alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um die Verpflichtungen der Schweiz zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen einzuhalten, und die von den Avocat.e.s pour le climat vertreten werden.

Während sich ihre Kolleginnen auf den Weg ins Hotel machen, um den Sieg bei einem Apéro zu feiern, eilt Pia Hollenstein an den Strassburger Bahnhof. Sie will die letzte Verbindung in ein Bündner Bergdorf erwischen, wo sie eigentlich diese Woche in den Ferien ist. Die 73-Jährige geht nach wie vor auf Skitouren. «Ich gehöre schon nicht mehr zu den Schnellsten», sagt sie lachend, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hat. Ihr Telefon klingelt alle paar Minuten, immer wieder sind es Nummern mit unbekannter Vorwahl. Man glaubt ihr, wenn sie sagt: «Es fühlt sich an, als wäre das der Höhepunkt meines Lebens!» So einen Erfolg habe sie als Grüne während ihrer Zeit im Nationalrat nie feiern können. Ob all der Begeisterung liegt es auf der Hand, dass sie findet, das Urteil markiere keinesfalls das Ende ihres Engagements. Zurücklehnen, da sind sich Hollenstein und Georg Klingler einig, werde man sich sicher nicht.