Neues Finanzierungsmodell: Aussicht auf mehr Freiheit

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Von der Objekt- zur Subjektfinanzierung: In mehreren Kantonen gibt es für Personen mit Beeinträchtigung Anlass zur Hoffnung – auch für kognitiv Handicapierte.Von Susan Boos

Viele kennen den französischen Film «Ziemlich beste Freunde» («Intouchables») aus dem Jahr 2011. Ein reicher Mann im Rollstuhl stellt einen Assistenten an, der ihm im Alltag hilft. «Das etwa war die Idee, als in der Schweiz der Assistenzbeitrag als neue Leistung der Invalidenversicherung eingeführt wurde – allerdings ohne den Sportwagen, mit dem die beiden Protagonisten im Film durch die Strassen von Paris rasen», sagt Irja Zuber, Rechtsanwältin der Organisation Procap. Seit 2012 ist es möglich, solche Assistenzbeiträge zu beziehen. Man habe damit vor allem verhindern wollen, dass junge, körperbehinderte Menschen bereits in jungen Jahren in eine Pflegeinstitution umziehen müssten, sagt Zuber. Grundsätzlich sei der Assistenzbeitrag ein sehr gutes Instrument.

Neuregelung ab Juli

Das Berechnungstool «Fakt2», das das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) entwickelte, definiert detailliert, was verrechnet werden darf. Das Tool hat zum Ziel, alle Personen mit Beeinträchtigung gleich zu behandeln – egal, ob Kleinkinder im Haushalt leben oder nicht. Beeinträchtigte Eltern wurden dabei vergessen (vgl. «So kann ich nicht raus»). Nach der Rüge des Bundesgerichts ist das BSV nun daran, das Tool anzupassen. Voraussichtlich im Juli wird es die neue Regelung in Kraft setzen.

Die Instrumente der Invalidenversicherung – wie «Fakt2» – folgen stark einer medizinischen Vorstellung von Behinderung. Körperbehinderte können vom Assistenzbeitrag eher profitieren, weil sie besser in der Lage sind, in die Rolle der Arbeitgeber:innen zu schlüpfen. Für kognitiv beeinträchtigte Personen ist es schwieriger. In den Kantonen ist aber einiges in Bewegung, was auch diesen Menschen mehr Freiheit geben würde. Bislang hatten die Kantone die Aufgabe, für Menschen mit Beeinträchtigung Institutionen bereitzustellen, in denen sie betreut wurden. Das Geld floss in Institutionen – also in Objekte. Von dieser sogenannten Objektfinanzierung will man nun wegkommen, hin zur sogenannten Subjektfinanzierung. Ein unschönes Wort – «dahinter steckt aber eine Revolution», sagt Christian Liesen, Professor am Institut für Sozialmanagement an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Denn künftig soll gefragt werden, was eine Person möchte und braucht. Selbst bei schwerer kognitiver oder körperlicher Beeinträchtigung sollen die Betroffenen entscheiden können, ob sie selbstständig oder in einer Institution leben wollen und welchen Leistungsanbieter sie wählen.

Liesen hat 2020 für den Kanton Zürich eine Studie zur Einführung der Subjektfinanzierung publiziert. Darin wird skizziert, was es alles braucht, um das System erfolgreich umzustellen. Sicher wird es nicht von heute auf morgen möglich sein, weil erst die nötigen Angebote entstehen müssen, die es den beeinträchtigten Personen erlauben, ihr Leben autonom zu gestalten. Billiger wird es vermutlich auch nicht.

Initiative kurz vor Lancierung

Die Studie schätzt, dass die Subjektfinanzierung den Kanton Zürich pro Jahr zwischen 19 und 58 Millionen Franken zusätzlich kosten wird. In diesem Rahmen wird auch eine individuelle Abklärung eingeführt. Das erfordere Sorgfalt, sagt Liesen. «Es geht um nichts weniger als die Lebenssituation der Leute – man muss ihre Privatsphäre wahren, aber alles anschauen, was bedarfsrelevant ist. Das wird nicht konfliktfrei sein. Aber es ist ein enorm wichtiger Systemwechsel.» Es werde auch spannend, weil ganz neue Angebote entstehen dürften. Beeinträchtigte Personen werden neu die Verwaltung der Mittel delegieren können, sie müssen also das Personal nicht selber anstellen, wie das mit den heutigen Assistenzbeiträgen gefordert ist. Am Schluss werden aber immer sie selber bestimmen, wohin das Geld fliessen wird. Etliche Kantone seien daran, das System in diese Richtung umzubauen, sagt Liesen.

Am 27. April wird die «Inklusions-Initiative» lanciert, die genau diesen Systemwechsel gesamtschweizerisch fordert und verlangt, «dass alle Menschen das Recht auf freie Wohnform und Wohnort haben» (siehe WOZ Nr. 13/22). Zudem fordert sie «mehr Assistenz, damit Menschen mit Behinderungen vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können». Überrissen ist das nicht: Die Schweiz hat 2014 die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die etwa dasselbe einfordert.