Ljudmila Ulitzkaja: «Wenn es keine Beweise gibt, existieren wir nicht»

Nr. 20 –

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine flüchtete die russische Schriftstellerin von Moskau nach Berlin. Dort denkt Ljudmila Ulitzkaja darüber nach, was die Vertriebenen nach ihrer Rückkehr einst erzählen werden.

Portraitfoto von Ljudmila Ulitzkaja
«Das ist im Grunde die Aufgabe eines jeden Menschen – zu verstehen, was mit ihm geschieht»: Ljudmila Ulitzkaja. Foto: Alberto Ortega, Getty

WOZ: Frau Ulitzkaja, seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vor gut einem Jahr leben Sie mit Ihrem Mann im Exil in Berlin. Wie geht es Ihnen?

Ljudmila Ulitzkaja: Wissen Sie, von allen Flüchtlingen bin ich fast die glücklichste: Hier in Berlin habe ich eine Wohnung, einen Job – nämlich mein Schreiben –, und ich habe Freund:innen. Aber Heimat bleibt immer Heimat, auch falls ich nie mehr dorthin zurückkehre … In meinem Wohnzimmer hängen Bilder von meinen Vorfahren, ich habe damit ein Stück Heimat mit ins Exil genommen. Mein Mann ist Bildhauer, jetzt malt er für sich. Ich rette mich eigentlich auch mit Arbeit. Ich würde gerne noch ein neues Buch schreiben – so Gott will – an diesem Wendepunkt in unserem Leben.

Werden Sie über den Krieg schreiben?

Das Thema meines Buches, sollte es jemals erscheinen – was ich nicht sicher weiss, denn ich bin achtzig Jahre alt, und die Zeit ist knapp und die Kraft auch –, wäre die Migration der Menschen.

Wovon möchten Sie erzählen?

In meiner Jugend war ich mit Menschen befreundet, die Russland während der Revolution 1917 verlassen hatten und Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre zurückgekehrt waren. Das waren wichtige Menschen in meinem Leben. Sie füllten eine Lücke in meiner kulturellen Biografie. Die Generation vor mir war eine Generation des Schweigens, sie haben sehr wenig über ihr Leben gesprochen. Die Rückkehrer dagegen waren viel gesprächiger. Und viele Bilder aus ihrem Leben haben mir geholfen, die Geschichte meines eigenen Landes zu rekonstruieren.

Gegen das Vergessen

Ljudmila Ulitzkaja lebte lange in Moskau und gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller:innen Russlands. Sie wurde 1943 in der damaligen Baschkirischen Autonomen Sowjetrepublik geboren, wohin ihre jüdischen Grosseltern in der Stalinzeit deportiert worden waren.

Wegen ihres politischen Aktivismus verlor die studierte Biologin während der Sowjetzeit ihre Arbeit als Wissenschaftlerin, und sie begann, Erzählungen, Drehbücher und Theaterstücke zu schreiben. Im Frühjahr 2022, kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine, floh Ulitzkaja mit ihrem Mann, dem Bildhauer Andrei Krassulin, ins Exil nach Berlin.

Im Hanser-Verlag erschienen von ihr zuletzt die gesammelten Essays «Die Erinnerung nicht vergessen»: private Aufzeichnungen gegen das Vergessen, biografische Erinnerungen, politische Reflexionen über den Totalitarismus in Russland.

Werden die Andersdenkenden, die Russland heute verlassen haben, zurückkehren?

Dieses Kommen und Gehen ist erstaunlich. Vor hundert Jahren gab es viele Russ:innen in Berlin. Hundert Jahre sind vergangen, und wir sehen wieder diesen Zustrom von Russ:innen. Auf den Strassen von Berlin ist Russisch, glaube ich, die zweithäufigste Sprache, die man hört. Das wird weniger das Schicksal von Deutschland verändern, aber dasjenige von Russland – ein Teil von ihnen wird irgendwann zurückkehren. Diese Vertreibungen haben nicht erst vor kurzem begonnen, wir kennen Vertreibungswellen seit der Zeit Iwans des Schrecklichen im 16. Jahrhundert. Und die Frage lautet: Sind diese Menschen Vertriebene, oder haben sie eine Botschaft?

Was meinen Sie damit?

Eine Botschaft an die Menschheit, was Macht tun sollte und was nicht. In Russland herrscht eine totalitäre Macht, die jeden Menschen, der nur einen Funken Freiheit oder Unabhängigkeit besitzt, jederzeit bestrafen, verfolgen, einsperren und töten kann.

Sehen Sie sich selber als Botschafterin?

Ich versuche, mir selbst mein Leben zu erklären. Das ist im Grunde die Aufgabe eines jeden Menschen – zu verstehen, was mit ihm geschieht. Nicht jeder stellt sich dieser Aufgabe. Zu verstehen, warum ihm bestimmte Prüfungen auferlegt werden, wie er aus ihnen herauskommt. Ich schreibe, um irgendwie die Beweise für die Zukunft zu retten, denn wenn es keine Beweise gibt, existieren wir nicht. Die Weitergabe von Wissen von einer Generation zur nächsten ist enorm wichtig. Das ist die grundlegendste Eigenschaft, die den Menschen vom Tier unterscheidet – die des menschlichen Gedächtnisses, über ein einzelnes Leben hinauszugehen.

Im Hanser-Verlag erschien im Januar Ihr neues Buch, «Die Erinnerung nicht vergessen», eine Sammlung persönlicher Erinnerungen und politischer Reflexionen, auch über den Krieg gegen die Ukraine. Sie schreiben unter anderem über Schmerz, Angst und Scham. Welches Gefühl überwiegt bei Ihnen gerade?

Ich empfinde alle drei gleichzeitig. Ich fühle mich sehr unwohl, obwohl es mir hier in Deutschland sehr gut geht. Natürlich will ich unbedingt nach Hause. Natürlich ist es sehr schwer für mich, jeden Tag die Nachrichten von der Front zu lesen, wie viele Menschen auf beiden Seiten getötet werden – sowohl auf der russischen als auch auf der ukrainischen. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als die ältere Generation eine Generation von Männern mit Krücken war. Und jetzt passiert das wieder. Und es sind junge Männer, die keine Nachkommen haben werden. Oder die vielen Frauen, die ihre Kinder alleine grossziehen müssen. Das alles ist furchtbar.

In vielen Essays ziehen Sie Parallelen zwischen der Sowjetzeit und heute, zwischen Stalinismus und Putinismus.

Der Hauptunterschied zwischen der Zeit des Putinismus und der des Stalinismus besteht darin, dass die Informationen heute viel leichter zugänglich sind. Wir wissen mehr über die Welt. Der Eiserne Vorhang existiert nicht mehr, auch wenn der Kreml jetzt versucht, ihn wieder zu errichten. Die Welt hat sich seither dramatisch verändert, aber die heutige Regierung versucht, in diese Zeit zurückzukehren und die Sowjetmacht wiederherzustellen. Darin sehe ich eine sehr grosse Gefahr. Das heutige Russland steuert nicht auf die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit zu, es ist auf dem Weg in die Archaik.

Ist es die autoritäre Herrschaft oder die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die Russland ruiniert?

Diese Regierung ist vom Volk gewählt worden, und momentan sehe ich in Russland keine Proteste, die das Potenzial hätten, etwas zu verändern. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen ein Gefühl der Empörung und der Würde haben. Ich glaube, die Menschen sind grösstenteils nur mit ihrem Lebensstandard unzufrieden: Sie hätten gerne eine kleine Lohn- und Rentenerhöhung, eine Senkung der Preise für Käse und Wurst. Ihre Forderungen und Wünsche sind sehr bescheiden. Menschen sind nicht anspruchsvoll, sie sind geduldig und bescheiden. Und das Fazit von Alexander Puschkins «Boris Godunow» lautet: «Das Volk ist stumm.» Das ist ein sehr wichtiger Satz für die russische Gesellschaft, gerade auch für heute.

Hängt das mit der jahrelangen Unterdrückung zusammen?

Ja, natürlich. Aber die Tatsache, dass die Menschen in Russland schweigen, kann sogar etwas Gutes sein. Denn wenn sie sich auflehnen und ihre Stimme erheben, kann es zu grossem Blutvergiessen kommen. Die Regierung verfügt über alle Mechanismen, um dieses Blut fliessen zu lassen. Sie hat eine gute Armee und weiss, wie man Spezialoperationen durchführt.

Jetzt reden Sie sarkastisch. Aber genau das ist der Vorwurf an die russische Gesellschaft, dass sie keinen Widerstand geleistet hat. Warum gehen die Mütter der Soldaten nicht auf die Strasse? Ist das eine sehr naive Frage?

Nein, das ist es nicht. Tatsache ist, dass wir seit langem unter der Repression leben. Das ist die Frage, die sich jede:r stellen sollte. Es gibt Frauen, die es ablehnen, zu einer Kundgebung zu gehen, auf der sie aufgefordert sind, den Krieg zu unterstützen. Andere gehen mit einem Plakat gegen den Krieg auf die Strasse und werden dafür ins Gefängnis gesteckt. Letztendlich habe ich keine Empfehlung, jede:r macht das, was sie oder er für richtig hält. Aber die Tatsache, dass inzwischen mehr als eine Million Menschen Russland verlassen haben, zeigt, dass es sehr viele gibt, die mit den Entscheidungen des Kreml nicht mehr leben wollen. Sie ziehen es vor, das Land zu verlassen, zum Beispiel, um ihre Kinder nicht in die Armee schicken zu müssen.

Als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert ist, habe ich meine Kinder zum Studium in die USA geschickt. Mein Mann hat damals dort in einem wissenschaftlichen Institut gearbeitet. Ich hatte eine Freundin, deren Sohn in Afghanistan getötet wurde. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann: In einem fremden Land in einen Krieg zu ziehen, von dem man nicht weiss, wofür und warum er geführt wird, und dort zu sterben. Von der Ukraine will ich gar nicht reden. Meine Familie väterlicher- und mütterlicherseits stammt aus der Ukraine.

Ist das Exil auch ein Weg für diese Menschen, sich der kollektiven Verantwortung zu entziehen?

Ich bin überhaupt kein Freund des Ausdrucks «kollektive Verantwortung». Ich bin Individualistin. Ich bin für Eigenverantwortung. Und ich bin sehr glücklich, wenn ich Menschen treffe und wir sagen können, dass wir eine gemeinsame Meinung haben. Aber nicht mehr als das. Russland führt einen Krieg. Er wird angeblich im Namen des russischen Volkes geführt, und ich sage es noch einmal ganz deutlich: Ich bin gegen diesen Krieg. Und ich bin nicht allein und will die kollektive Verantwortung für den Krieg Russlands nicht mittragen. Die Verantwortung muss bei denen liegen, die diesen Krieg führen und unterstützen.

Die russische Sprache wird heute oft gemieden, nicht nur in der Ukraine. Es gibt Bewegungen gegen russische Bücher und Denkmäler im Baltikum, im Südkaukasus. Sind Sie besorgt?

Nein. Das kann ich verstehen. Aber es ist eine politische Haltung, der ich nicht zustimme. Wenn jemand Tolstoi oder Dostojewski auf Russisch lesen kann, ist das eine Bereicherung. Die Kenntnis einer anderen Sprache ist immer ein Vorteil. Diese politische Welle gegen die russische Kultur wird abklingen und vorübergehen. Niemand zwingt einen Letten oder eine Georgierin, Puschkin zu lesen. Ein gebildeter Mensch wird ihn lesen, so wie er Goethe oder Byron lesen würde. Und man kann lange darüber streiten, ob Gogol Russe oder Ukrainer war. Er war Ukrainer, aber er hat auf Russisch geschrieben, also ist er ein russischer Schriftsteller. Daran kann man nichts ändern.

Führen Sie immer noch ein Tagebuch?

Seit den siebziger Jahren ohne Unterbruch. Mein Grossvater Jakob hat auch geschrieben. Und ich habe ein Buch mit dem Titel «Jakobsleiter» geschrieben, nachdem ich seine Briefe und Notizbücher in die Hände bekommen habe.

Was wird mit Ihren Tagebüchern geschehen?

Das überlasse ich meinen Lektor:innen und Dolmetscher:innen, wenn ich tot bin.