IS-Rückkehrerinnen aus Zentralasien: «Wir waren blind wie neugeborene Kätzchen»

Nr. 15 –

Die 18-jährige Miss Elegance von Karabalta verliess ihre Familie und schloss sich dem IS an. Nun kämpft ihre Mutter für die Heimkehr von IS-Anhängerinnen nach Kirgistan.

muslimische Pilger:innen auf dem Suleiman-Berg in der kirgisischen Stadt Osch
Beliebtes Ziel muslimischer Pilger:innen: Der Suleiman-Berg in der kirgisischen Stadt Osch. Foto: Danil Usmanov

Karabalta liegt sechzig Kilometer westlich der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Früher gab es hier Betriebe, die Uran für die Sowjetunion verarbeiteten. Heute ist die Stadt mit ihren 50 000 Einwohner:innen hauptsächlich für ihren Fussballverein bekannt. An den Wänden und Mauern stehen Anzeigen: «Job in Russland», darunter die Telefonnummer einer Arbeitsvermittlungsfirma.

Wie Zehntausende andere aus Kirgistan ging auch die heute 49-jährige Khamida Jakubowa nach Russland, um in der Fremde Geld zu verdienen. Zu Hause in Karabalta warteten ihr Ehemann und die vier Kinder. Im Jahr 2014 nahm Jakubowa ihre Tochter mit nach Moskau. Die 18-Jährige, die einst den Titel der Miss Elegance von Karabalta gewonnen hatte, begann, in einem Schönheitssalon zu arbeiten. Im selben Jahr noch kündigte sie ihre Stelle wieder. Ihren Eltern gegenüber sagte sie, sie wolle studieren, und erwähnte eine Islamische Universität in der Türkei, die sie übers Internet gefunden habe. Angeblich erhob diese keine Studiengebühren und übernahm die Reisekosten in die Türkei.

Jakubowa fand dies verdächtig. Die Familie ist muslimisch, aber wie die Mehrheit der Bevölkerung Kirgistans hat sie eine liberale Einstellung zur Religion. Doch vom Beschluss der Tochter bis zu ihrer Abreise vergingen gerade mal zwei Wochen: «Bevor wir etwas dagegen tun konnten, war unsere Tochter bereits in Syrien.» Jakubowa war schockiert. «Wir waren blind wie neugeborene Kätzchen. Damals wussten wir nicht, dass es viele solche Fälle gibt.»

Rekrutierungsgebiete des IS in Zentralasien

Karte von Ländern in Zentralasien
Karte: WOZ

Zusammen mit Ramas Sariew, ihrem Nachbarn in Karabalta, dessen zwei jugendliche Töchter ebenfalls vom sogenannten Islamischen Staat angeworben wurden, gründete Jakubowa einen Verein namens «Reiche eine helfende Hand» und fing an, nach anderen betroffenen Eltern zu suchen. Innerhalb weniger Wochen wuchs ihre Kontaktliste auf mehrere Hundert Personen an.

Sariews Frau reiste nach Syrien, in der Hoffnung, ihre Töchter zurückholen zu können – und wurde selbst für mehrere Jahre im Gefangenenlager al-Hol festgehalten. Jakubowa setzte auf die Lobbyarbeit. Sie schrieb an das Auswärtige Amt Kirgistans und an das Innenministerium. Wenn Präsident Sadyr Dschaparow durch das Land reiste, war immer jemand von Jakubowas Verein vor Ort, um ihm eine Mappe mit den Daten von Frauen und Kindern zu überreichen, die vom IS rekrutiert worden waren. «Wir hatten Namen, Geburtsdaten, Adressen in Kirgistan. Wir erledigten die ganze Arbeit für das Aussenministerium. Wir baten: Bringt unsere Kinder zurück.»

Rückführung von Frauen und Kindern

Die Geheimdienste in Kirgistan schätzen, dass in den Jahren 2014 und 2015 über 800 Bürger:innen in den Irak und nach Syrien gereist sind, um den IS mit aufzubauen. Die tatsächliche Zahl dürfte höher sein. Mindestens die Hälfte dieser Menschen gelten heute als verstorben.

Nach der endgültigen Zerschlagung der IS-Truppen im Dezember 2017 im Irak und im März 2019 in Syrien strandeten viele IS-Anhänger:innen in der Grenzregion zwischen den beiden Ländern. Mehrere Dutzend Kirgis:innen sind nach wie vor in Gefängnissen im Irak inhaftiert. Insgesamt 115 Frauen und 285 Kinder sassen im Al-Hol-Lager im von den Syrischen Demokratischen Kräften kontrollierten Nordsyrien fest. Unter ihnen war auch die Tochter von Khamida Jakubowa.

Während viele westliche Länder sich gegen die Rückführung ihrer Bürger:innen wehren oder ihnen die Staatsbürgerschaft entziehen, beschlossen die Regierungen Zentralasiens, Frauen und Kinder aktiv zurückzuholen. Auch Kirgistan kündigte einen Rückführungsprozess an. Die Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen wie dem IS wird dort strafrechtlich verfolgt, doch für IS-Frauen wurde eine Amnestie erlassen: Frauen, die meist ihren Männern gefolgt seien, trügen keine Verantwortung für deren Entscheidungen, so die Logik. Und wenn man die Mütter inhaftiere, müssten die Kinder ohne sie aufwachsen, was deren Traumata nur vertiefe.

Das erste Flugzeug mit ehemaligen IS-Anhängerinnen landete 2019 in Kirgistan, das letzte 2023. Das Land lernte aus den Fehlern der Nachbarländer: Tadschikistan hatte Kinder aus al-Hol in geschlossenen Internaten untergebracht. Für deren Integration war das nicht hilfreich. Usbekistan gewährte den Rückkehrerinnen temporär finanzielle Unterstützung, was in der Bevölkerung auf Unverständnis stiess.

In Kirgistan wurden die Frauen und Kinder in stillgelegten Tourismuskomplexen untergebracht. Nachdem sie ärztlich untersucht worden waren, kehrten sie zu Verwandten zurück, normalerweise zu den Eltern und Grosseltern. Da viele Kinder in Syrien geboren wurden und keine Geburtsurkunden hatten, halfen DNA-Tests, die Verwandtschaft zu den aufnehmenden Familien festzustellen. Damit wurde auch ihr Recht auf die Staatsbürgerschaft bestätigt.

Schikanierte Usbek:innen

Der ländliche Bezirk Arawan liegt im Süden von Kirgistan und ist bekannt für seine konservative Auslegung des Islam. Hier, in der 33 000-Einwohner:innen-Stadt Arawan, lebt die 62-jährige Delbarkhon Khamidowa. Trauer beherrscht ihr Leben. Sie hat in Syrien Ehemann und Sohn verloren. Der Sohn schloss sich 2014 dem IS an. Seine Frau und seine Kinder folgten ihm. Khamidowa wusste angeblich nichts davon. Wäre sie dagegen gewesen? Sie kann es nicht sagen.

Für die gläubige Muslimin gibt es kein Land auf der Welt, das die islamischen Grundsätze wirklich befolgt. Weder der Iran noch Afghanistan entsprechen ihren Erwartungen. Selbst Saudi-Arabien verändere sich zum Schlechteren hin. Khamidowa weiss das, weil sie siebenmal nach Mekka gepilgert ist.

«Mein Sohn war kein Terrorist», sagt sie. Er sympathisierte jedoch mit der fundamentalistischen Partei Hizb-ut-Tahrir, deren Tätigkeit in Zentralasien verboten ist. In den 1950er Jahren im Nahen Osten gegründet und heute von Europa aus operierend, ruft sie zum Sturz prowestlicher und prorussischer Regierungen in arabischen Ländern und ehemaligen Sowjetrepubliken auf. Die Partei lehnt jedoch Gewalt ab. «Das islamische Kalifat sollte durch friedliche Veränderungen entstehen», betont auch Khamidowa.

Bei Khamidowas Sohn wurde verbotene religiöse Literatur gefunden. Und eine Waffe, von der die Mutter glaubt, dass sie ihm von der Polizei untergeschoben wurde. Er wurde zu elf Jahren Haft verurteilt, aber gegen Zahlung von 10 000 US-Dollar Bestechungsgeld freigelassen. Ruhe fand er nicht: Die Polizei erpresste ihn und forderte weiter Geld. Khamidowa glaubt, dass die Radikalisierung ihres Sohnes eine Folge dieser Schikane war, die überdies ethnisch motiviert gewesen sei: Die Polizei ist kirgisisch, die Bewohner:innen von Arawan sind Usbek:innen.

betende Männer in der kirgisischen Stadt Osch
Die Region um Arawan im Südwesten Kirgistans ist bekannt für ihre konservative Auslegung des Islam. Betende Männer in Osch. Foto: Danil Usmanov

Usbek:innen wie Khamidowa sind mit fast einer Million Menschen und mit über vierzehn Prozent der Bevölkerung die grösste ethnische Minderheit in Kirgistan. Mehrmals kam es in der Geschichte zu blutigen ethnischen Zusammenstössen. 1999 drangen Kämpfer der Islamischen Bewegung Usbekistans – ein örtlicher Ableger der al-Kaida – in Kirgistan ein, um die Regierung in Bischkek zu stürzen. Die kirgisische Mehrheit betrachtet alle Usbek:innen als religiöse Fundamentalist:innen, auch wenn sie das nicht sind. Das drängt die Usbek:innen Kirgistans an den Rand der Gesellschaft. Bei Flügen aus dem usbekisch geprägten Süden sind die Kontrollen strenger als in die andere Richtung.

Dass ihr Sohn im Kampf in Syrien gefallen war, erfuhr Khamidowa 2015. Ihr Mann machte sich sofort auf die Suche nach dem Leichnam. Er wurde an der türkischen Grenze zu Syrien aufgehalten. Die Türkei schickte ihn zurück nach Kirgistan, wo er in Gewahrsam genommen wurde. Um einer Anklage zu entgehen, verpflichtete er sich, noch einmal nach Syrien zu gehen, um Daten für die kirgisischen Geheimdienste zu sammeln. So berichtet es Khamidowa. Er wurde vom türkischen Militär an der Grenze zu Syrien erschossen.

Khamidowas Schwiegertochter kehrte 2023 aus dem Al-Hol-Lager zurück. Sie brachte Khamidowas zwei Enkel und ein Kind aus ihrer zweiten Ehe mit einem tadschikischen IS-Kämpfer mit. Heute lebt sie in Arawan bei ihren Eltern. Diese wollen keinen Kontakt zu Khamidowas Familie. Sie verstehen sich als konservative Muslime, wollen aber nicht mit dem IS in Verbindung gebracht werden. «In unserer Kultur ist die Frau dem Mann untergeordnet. Es ist Khamidowas Sohn, der für die Hölle verantwortlich ist, die unsere Tochter durchgemacht hat», sagt der Vater, der nicht möchte, dass der Name der Familie in der Presse genannt wird. Ihr Haus wird vom Geheimdienst überwacht. «Von Normalität können wir nur träumen.»

Auch Khamidowas Haus wird überwacht. Zwei ihrer Söhne arbeiten in Russland. Der Geheimdienst behauptet, auch sie könnten sich radikalisieren, sagt Khamidowa.

Leiden unter dem Kommunismus

Die Hizb-ut-Tahrir und andere radikale islamische Bewegungen sind bekannt für die Rekrutierung von Anhänger:innen aus finanziell oder sozial marginalisierten Gruppen. Die Familie von Delbarkhon Khamidowa war bessergestellt. Sie ist Lehrerin, ihr Mann führte eine beliebte Bäckerei. «Wir haben so sehr unter dem Kommunismus gelitten.» Khamidowa erinnert sich daran, wie schwer es war, den Islam zu praktizieren, als das Land Teil der Sowjetunion war. «Zumindest jetzt könnte uns der Staat in Ruhe lassen.»

Aus ganz Zentralasien sind mehrere Tausend Menschen dem Islamischen Staat beigetreten. «Die Popularität radikaler islamischer Bewegungen wird oft mit der Identitätskrise nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 erklärt», sagt Tynchtykbek Zhanadylow. Seine NGO Steps to Success führt Programme zur Eingliederung von Rückgeführten in Kirgistan durch und organisiert Ausbildungskurse, damit die Frauen einen Beruf erlernen können.

Es gebe jedoch gewichtigere Gründe für die Radikalisierung, betont er: Seit dem Zerfall der Sowjetunion wurde Zentralasien zum Ziel riesiger Investitionen Katars, Kuwaits, der Vereinigten Arabischen Emirate sowie der Türkei, die den Bau von Tausenden Moscheen und Koranschulen finanzierten. Das tun die Länder noch heute. In den neunziger Jahren gab es in Kirgistan einige Dutzend Moscheen, heute sind es mehrere Tausend. Insbesondere die salafistische Bewegung aus den Golfstaaten fordert die Säuberung des kirgisischen, relativ liberalen Islam von Einflüssen anderer Religionen und traditionellen Praktiken aus vorislamischer Zeit. «Viele Spender träumen von der Reislamisierung Zentralasiens», sagt Zhanadylow. «Sie bieten Geldprämien an, wenn eine bestimmte Anzahl von Frauen den Hidschab aufsetzt, obwohl die Kirgis:innen diesen nie getragen haben. Oder wenn die Bevölkerung die Geschäfte zwingt, den Verkauf von Alkohol einzustellen.»

Kirgistan ist, besonders im Norden, ein relativ liberales Land. «Der säkulare Staat ist aber nicht in der Lage, zwischen Frömmigkeit und Fundamentalismus zu unterscheiden. Dies verursacht Probleme», sagt Zhanadylow. «Die Menschen sollten ihre Religiosität zum Ausdruck bringen können. Die Frömmigkeit misstrauisch zu behandeln oder sie zu kriminalisieren, treibt Menschen in die Arme dschihadistischer Bewegungen», glaubt er. Die Lösung wäre eine strenge staatliche Kontrolle über die Religion. Viele Moscheen wurden jedoch nicht offiziell registriert. «Der Fluch Kirgistans ist, dass es das demokratischste Land unter seinen autoritären Nachbarn ist. Religiöse Extremisten können sich hier gut verstecken», sagt Zhanadylow.

Nach fünf Jahren in al-Hol kam auch die Tochter von Khamida Jakubowa 2023 dank eines Rückführungsprogramms zurück. Auch Ramas Sariews Frau und ihre zwei Töchter kehrten aus dem Al-Hol-Lager heim. Jakubowa hofft, dass in diesem Jahr auch Frauen aus den Gefängnissen im Irak zurückkehren. Ausserdem schreiben ihr Eltern aus Russland, die um Hilfe bei der Suche nach ihren Kindern bitten. «Nach den Anschlägen in Moskau», meint Jakubowa, «wird es sehr schwierig sein, ihnen zu helfen.»

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Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt. www.journafonds.ch