Aufstieg aus dem Untergrund: Und plötzlich sahen sich die Taliban selbst mit Terroristen konfrontiert

Nr. 15 –

Der IS-Ableger «Islamischer Staat in der Provinz Chorasan» hat sich zum Anschlag in Moskau Ende März bekannt. Die Terrorgruppierung rekrutiert auch in Zentralasien Mitglieder.

Spätestens mit dem Anschlag auf die Crocus City Hall am Stadtrand Moskaus hat sich der IS-Ableger «Islamischer Staat in der Provinz Chorasan», kurz ISPK, wieder auf brutale Weise bemerkbar gemacht. Während sich mehrere mutmassliche Täter in russischer Untersuchungshaft befinden, existiert ein Bekennerschreiben des IS-Ablegers, das als glaubwürdig eingestuft wird. Die vier als Haupttäter Verdächtigten stammen aus Tadschikistan; weitere tadschikische Staatsbürger wurden festgenommen.

Der ISPK wird hauptsächlich mit Afghanistan in Verbindung gebracht. Dort entstand die Gruppierung unabhängig von ihrem «grossen Bruder» IS im Irak und in Syrien um das Jahr 2016. Zu den ersten ISPK-Führern, die dem damaligen IS-«Kalifen» Abu Bakr al-Baghdadi die Treue schworen, gehörten einstige Mitglieder der afghanischen Taliban aus der Zeit des «Islamischen Emirats Afghanistan» (1996–2001), die damals die US-Truppen und deren Verbündete am Hindukusch bekämpften, sowie ehemalige Angehörige der pakistanischen Taliban (Tehrik-i-Taliban Pakistan, TTP), die wiederum hauptsächlich gegen den pakistanischen Staat vorgingen.

Mit dem Namen «Chorasan» bezog sich der neue IS-Ableger bei seiner Gründung auf die historische Bezeichnung der Region, die weite Teile des heutigen Zentral- und Südasien umfasst. Doch im Gegensatz zum IS gelang es dem ISPK kaum, grössere Territorien in Afghanistan zu besetzen, ausser einigen Regionen in den Provinzen Nangarhar und Kunar. In Nangarhar hatten die USA 2017 die verheerendste ihrer (nichtnuklearen) Bomben gegen angebliche IS-Kämpfer eingesetzt; in Kunar liessen sich aufgrund der ansässigen salafistischen Minderheit schon früh ISPK-Sympathisanten finden.

US-Unterstützung für die Taliban

Bereits in der Anfangszeit des ISPK wurde deutlich, dass die Taliban zu seinen grössten Feinden gehörten. Der Grund für die Konkurrenz sind unterschiedliche Ideologien sowie Herrschaftsansprüche. Bis zu ihrer Rückkehr nach Kabul im August 2021 betrachteten sich die Taliban als islamistische Traditionalisten der sunnitisch-hanafitischen Rechtsschule. Ihr Fokus lag auf der Wiedererrichtung ihres «Emirats» innerhalb der afghanischen Grenzen, wie es bis Ende 2001 existiert hatte. Die salafistischen Dschihadisten des IS hingegen streben nach einem globalen Kalifat, das jegliche Grenzen, insbesondere die von westlichen Kolonialisten gezogenen, sprengen soll. Das wurde bereits im Irak und in Syrien deutlich. Auch in der Anwendung von Gewalt unterscheiden sie sich: Versklavung und willkürlicher Massenmord im Stil des IS wurden von vielen Taliban-Führern kritisiert und abgelehnt.

Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppierungen führten regelmässig zu blutigen Auseinandersetzungen. Ein Beispiel dafür ist die Tötung des ehemaligen Taliban-Kommandanten und IS-Vizegouverneurs Abdul Rauf Chadim durch einen US-Drohnenangriff im Jahr 2016. Chadim war Häftling in Guantánamo gewesen und hatte den Taliban angehört. Im Foltergefängnis hatte er zum Salafismus gefunden und sich weiter radikalisiert. Nach seiner Freilassung und der Rückkehr nach Afghanistan wandte er sich von den Taliban ab.

Bis heute munkelt man, dass die Taliban Chadims Koordinaten den Amerikanern weitergereicht hätten, um ihn aus dem Weg zu räumen. Zu ähnlichen «Kooperationen» zwischen den Taliban und den USA soll es im Zuge des Kampfes gegen den IS auch anderweitig gekommen sein. 2020 berichtete die «Washington Post» von Anti-IS-Operationen in Kunar, bei denen die USA aus der Luft Taliban-Kämpfer am Boden unterstützt haben sollen.

Spätestens seit dem Abzugsabkommen von Doha, das im Februar 2020 zwischen den Taliban und den USA im Golfemirat Katar unterzeichnet wurde, gelten die Taliban dem ISPK als Verräter, die es – damals noch neben der vom Westen unterstützten afghanischen Republik – zu bekämpfen gilt. Der Regierung in Kabul wurde allerdings ein ambivalentes Verhältnis zum ISPK nachgesagt. Unter den Extremisten befanden sich wohl nicht nur Ex-Taliban-Mitglieder, sondern auch Männer, die dem Kabuler Sicherheitsapparat nahestanden. Die meisten IS-Anschläge in Afghanistan trafen Zivilist:innen, darunter etwa Mitglieder von religiösen Minderheiten wie den Sikhs und vor allem schiitische Muslim:innen.

Postsowjetischer Einfluss

Unter die ISPK-Terroristen in Afghanistan hatten sich auch Extremisten aus den postsowjetischen Staaten in der Region gemischt. Meist handelte es sich um Männer aus Usbekistan oder Tadschikistan. Auch die Taliban, die weiterhin mit ihrem eigenen «war on terror» gegen den ISPK beschäftigt sind – in derselben Woche wie in Moskau gab es auch in Kandahar einen Anschlag –, sprachen in der Vergangenheit von ISPK-Mitgliedern mit Wurzeln in den Nachbarländern.

Bereits 2015 wurde deutlich, dass der IS erfolgreich in Zentralasien rekrutieren konnte. Damals schloss sich Gulmurod Chalimov, Anführer einer tadschikischen Eliteeinheit, die einst für Antiterroreinsätze von den USA und Russland ausgebildet worden war, dem IS im Irak und in Syrien an. In einem Propagandavideo machte er für seine Entscheidung die «antiislamische Politik» seiner Regierung verantwortlich.

Bei der «Regierung» in Tadschikistan handelt es sich de facto um eine Familiendiktatur rund um den Präsidenten Emomali Rahmon, der seit nunmehr drei Jahrzehnten das Land als «Führer der Nation» regiert. Das Rahmon-Regime ist für seine extrem säkulare und religionsfeindliche Politik bekannt. Während sich die Familie in der Staatskasse bediente, wurden Moscheen in Nachtclubs umgewandelt, Kritiker:innen und Dissidenten verjagt, eingesperrt oder ermordet. Die Bevölkerung verarmte.

Dies gab nicht nur dem militant-islamistischen Extremismus Aufschwung, sondern sorgte auch für eine Massenemigration. Millionen von Tadschik:innen leben heute in Russland als marginalisierte Arbeitsmigrant:innen am Rand der Gesellschaft – ein weiterer Punkt, der den Rattenfängern des IS gelegen kommt. Dass Russland, weiterhin zu den grössten Unterstützern der tadschikischen Diktatur gehört, macht die ideologische Hirnwäsche umso einfacher.

Russische Berater in Kabul

Der Kampf gegen den ISPK werde nun von den Taliban instrumentalisiert, um gegen alle möglichen Feinde und Kritiker brutal vorzugehen, erzählt ein Beamter des Taliban-Aussenministeriums, der anonym bleiben will. Er berichtet von mehreren Treffen mit russischen Vertretern, die seit der Rückkehr der Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul sowie im Ausland stattgefunden haben sollen. Die grösste Sorge der Russen sei stets der Aufstieg des ISPK gewesen. «Alles andere hat sie nicht interessiert.» Ironischerweise waren es nun die Taliban, die sich als entschlossene Antiterrorkämpfer präsentierten.

Dabei kann sich womöglich jener «blowback» wiederholen, den die USA und ihre Verbündeten im Lauf ihres zwanzigjährigen Einsatzes erlebten. Denn nur allzu oft wurden damals nicht Taliban gejagt und getötet, sondern Menschen, die nichts mit Militanz und Extremismus zu tun hatten. Die Folge war die Radikalisierung ganzer Landstriche, von der die Taliban profitierten. Doch heute befinden sich diese auf der anderen Seite des Schlachtfelds, wo sie bald womöglich nicht nur von Russland, sondern auch von anderen Staaten unterstützt werden.