Die Welt dreht sich: Magischer Realismus

Nr. 15 –

Rebecca Gisler über einen Zufall mit Maryse Condé

«Magischer Realismus» war der Titel eines Schreibateliers, das ich letzte Woche vorbereiten musste. Dabei wollte ich mich weniger vom ursprünglichen Begriff inspirieren lassen als von der Idee, dass im magischen Realismus die schreibende Person die Realität durchdringt und versucht, sie zu entwirren und das Geheimnisvolle in den Dingen, im Leben, im menschlichen Handeln zu entdecken. So, dass die Grenze zwischen Realität und Imaginärem aufgehoben wird und Letzteres Teil der Realität wird.

Der traditionelle Begriff des Realismus wird durch das Eingreifen des Übernatürlichen in das Werk überwunden, ohne dass der Status der Realität durch die Handlung und die Figuren infrage gestellt wird. Genauer gesagt: Für die Leser:innen nicht nachvollziehbare Ereignisse wie zum Beispiel Hexerei, Zauberei oder die Kommunikation mit höheren Wesen werden als eine Selbstverständlichkeit innerhalb eines realen Kontextes angesehen.

Um mich von verschiedensten Sichtweisen inspirieren zu lassen, hatte ich in der Bibliothek Bücher zu diesem Thema ausgeliehen: vom magischen Realismus im queeren Film bis hin zu einem französischen Essay zum Thema «Die Vorstellungswelten dekolonisieren», in dem es unter anderem um die Schriftstellerin Maryse Condé ging. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Frankreich vor allem vom Surrealismus die Rede gewesen. Im Unterschied zum Surrealismus verwendet der magische Realismus keine Traummotive, und er verzerrt weder die Realität noch erschafft er imaginäre Welten, wie es die Fantasyliteratur oder die Science-Fiction tun.

Magischer Realismus ist bekanntlich eine vorerst südamerikanische Bewegung, entstanden in den fünfzgier Jahren, die auch anderswo Fuss fasste. Unter anderem in jenen ehemaligen französischen Kolonien, die geografisch viel näher an Südamerika liegen als an der französischen Metropole. In Frankreich wurden die karibischen Schriftsteller:innen, die etwas «Unfranzösisches» in der Sprache und in der literarischen Tradition mitbrachten, als Erste mit dem Begriff des magischen Realismus in Verbindung gebracht.

Die verschiedenen Vorstellungswelten aus dem gesamten frankofonen Sprachraum und was sie mit der Literatur machen, sind für mich als Schriftstellerin, die sich selber irgendwo zwischen verschiedenen Sprachen wiederfindet, ein wichtiges Thema: Ist die Tatsache, dass man aus einem sprachlichen Anderswo kommt oder sich da bewegt, nicht ein Anreiz, ein Anderswo zu suchen? Vielleicht würde ich, dieser Frage nachgehend, dem Begriff vom magischen Realismus in der frankofonen Literatur näherkommen.

Als ich aber begann, mich genauer über Maryse Condé, die ich tatsächlich nur vom Namen her kannte, zu erkundigen, wurde an jenem 2. April in den Medien bekannt gegeben, dass die grosse Stimme der frankofonen Literatur im Alter von neunzig Jahren verstorben sei. Die 1934 in Guadeloupe geborene Maryse Condé ist die Verfasserin eines umfangreichen Werks, das unter anderem von Themen wie Sklaverei, Identitäten und Mutterschaft geprägt wurde. Ob das jetzt Zufall oder ein bisschen Magie in der Realität war, dass ich genau an jenem Tag auf Maryse Condé gestossen bin, weiss ich nicht. Doch hinter dieser traurigen Nachricht verbirgt sich eine gute: Ich werde umgehend in das Werk von Maryse Condé eintauchen und meine Überlegungen fortsetzen.

Rebecca Gisler ist Autorin und lebt in Zürich.