Iran nach den Wahlen: «Die Menschen riskieren alles»

Nr. 12 –

Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen das Regime bleibt ungebrochen. Dieses reagiert mit noch mehr Hinrichtungen und weiter zunehmendem Druck auf Frauen, wie ein neuer Uno-Bericht zeigt.

Strassenszene in Teheran Ende Februar, im Hintergrund ein Wandbild das zur Parlamentswahl aufruft
Längst nicht alle Frauen befolgen die Kopftuchpflicht. Strassenszene in Teheran Ende Februar, das Wandbild im Hintergrund ruft zur Parlamentswahl auf.
 
Foto: Arash Khamooshi, Laif

In sozialen Netzwerken verbreitete sich das Video Mitte März viral: Eine Frau sitzt mit einem Baby auf dem Arm in einem Spital in Ghom – die schiitische Pilgerstadt ist das erzkonservative religiöse Zentrum des Iran. Das Video scheint von einer Überwachungskamera zu stammen. Zu sehen sind Menschen, die im Spitalkorridor umhergehen; alle Frauen sind verhüllt. Nur die Frau mit dem Baby im Arm trägt ihr Haar offen. Als sie bemerkt, dass ein Mullah sie mit einem Handy filmt, steht sie auf und gibt ihr Kleinkind in andere Hände. Danach geht sie auf den Mullah los, schreit ihn an und kommt ihm dabei sehr nahe. Sie will offenbar sein Handy kontrollieren; öfter ertönt ein Piep, vielleicht weil sie den Mann wüst beschimpft. Mehrfach schubst sie ihn, der Geistliche weicht aus. Andere Menschen kommen dazu und versuchen, die Frau zu beruhigen. Der Mann ist über diesen Angriff sichtlich irritiert.

Hinrichtung als Repressionsmittel

Die iranischen Mullahs haben Angst vor den Frauen. Denn nach den landesweit von Frauen angeführten Protesten im Herbst 2022 zeigen immer noch viele Iranerinnen ihre Wut auf das Regime, indem sie sich dessen Kleiderordnung nicht unterwerfen. Eigentlich ist es verboten, sich mit offenem Haar in der Öffentlichkeit zu zeigen – wer es dennoch wagt, zeigt sehr viel Mut.

So haben Hardliner die Überwachung der Kleidungsregeln intensiviert. Cafés wurden wegen Verstössen gegen die Kopftuchpflicht geschlossen, Frauen, die sich im Netz ohne Kopftuch zeigen, werden verfolgt. Laut iranischen Medienberichten haben die Behörden in den vergangenen Monaten wegen Verstössen gegen die Kopftuchpflicht Zehntausende Mahnungen per SMS verschickt. Gleichzeitig verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das noch drakonischere Strafen bei einem Verstoss vorsieht. Noch ist diese Reform nicht in Kraft. Doch nach den Parlamentswahlen vom 1. März ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie umgesetzt wird. Wie erwartet eroberten nämlich die Fundamentalist:innen die Mehrheit der insgesamt 290 Sitze im Parlament.

Portraitfoto von Saghi Gholipour
Saghi Gholipour, Free Iran Switzerland Foto: Delia Piller

Zugleich rollt eine Hinrichtungswelle durch das Land. Schon im vergangenen Jahr stellte Uno-Generalsekretär António Guterres fest, das Regime richte Missliebige mit alarmierender Geschwindigkeit hin. Anfang März veröffentlichten die Menschenrechtsorganisationen Iran Human Rights und Together Against the Death Penalty einen Bericht, in dem sie dem Regime vorwerfen, im vergangenen Jahr mindestens 834 Personen exekutiert zu haben – so viele wie seit Jahren nicht mehr. Offizielle Zahlen gibt es keine, laut Menscherechtler:innen werden die meisten Hinrichtungen im Geheimen ausgeführt.

«Die Zunahme ist eine Reaktion auf die Protestbewegung im Jahr 2022. Hinrichtungen werden im Iran immer auch als Repressionsmittel genutzt, um die Menschen einzuschüchtern», sagt Saghi Gholipour, Politikwissenschaftlerin und Aktivistin des Vereins Free Iran Switzerland, gegenüber der WOZ. Damals hatte der Tod von Mahsa «Jina» Amini die schwersten Proteste in der Geschichte der Islamischen Republik ausgelöst. Weil die Kurdin ihr Kopftuch angeblich zu locker trug, nahmen sie die Sittenwächter fest. Kurz darauf starb Amini in Polizeigewahrsam. Monatelang gingen vor allem Junge unter dem Motto «Frau, Leben, Freiheit» auf die Strassen. Gholipour geht davon aus, dass die Dunkelziffer der Hingerichteten hoch ist. «Das Regime hält die Informationen zurück, weil ihm klar ist, dass Hinrichtungen keine legitimen Strafmassnahmen sind. Sie wollen ihr Gesicht in der Weltöffentlichkeit wahren, und weitere Proteste wegen der Hinrichtungen sollen verhindert werden.»

Auch Teilnehmer:innen der damaligen Massenproteste gegen die Staatsführung wurden exekutiert, wie ein Mitte März veröffentlichter Bericht des Uno-Menschenrechtsrats darlegt. Das Regime habe im Zeitraum von Dezember 2022 bis Januar 2024 mindestens neun Protestierende hingerichtet, hält er fest. Die gewalttätige Unterdrückung friedlicher Proteste und die institutionelle Diskriminierung von Frauen seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Uno-Fachleute gehen weiter davon aus, dass 551 Demonstrierende von Sicherheitskräften getötet wurden, mindestens 49 Frauen und 69 Kinder sollen darunter gewesen sein. «Die meisten Todesfälle wurden durch Schusswaffen, insbesondere Sturmgewehre, verursacht», so der Uno-Bericht. Menschen seien willkürlich getötet und ihrer Freiheit beraubt worden, es habe Folter und Vergewaltigungen gegeben. «Dieser alberne Bericht ist unsachlich, voreingenommen und inkorrekt», kommentierte ein Sprecher der iranischen Regierung die Untersuchung.

Unterdessen dreht sich die Spirale der Radikalisierung weiter. Mittlerweile sind alle zentralen Machtstellen mit Hardlinern besetzt. Die jetzigen Parlamentswahlen waren die ersten Wahlen seit den Protesten 2022. Was die iranische Theokratie als freie, faire Wahl verkaufte, war in Wirklichkeit eine Scheinabstimmung. Vorab entscheidet der Wächterrat, ein erzkonservatives Kontrollgremium, über die Zulassung der seiner Meinung nach ideologisch geeigneten Kandidat:innen. Dies hat zur Folge, dass die Stimmberechtigten fast nur regimetreue Politiker:innen wählen können. In diesem Jahr war der Wahlkampf nur für wenige Tage erlaubt. Es gab zahlreiche Verhaftungen von Aktivist:innen, die zum Boykott aufriefen.

Die eigentliche Macht hat ohnehin der ultrakonservative Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei inne. Dieser wird vom sogenannten Expertenrat ernannt, der nun ebenfalls von den Stimmberechtigten gewählt wurde. Dem Gremium gehören 88 schiitische Geistliche an, die im Todesfall die Nachfolge des Religionsführers bestimmen. Weil Chamenei schon 84 Jahre alt ist, wird jetzt die Zeit nach ihm geplant.

Die Menschen wollen Wandel

Auch wegen dieser autoritären Restriktionen war die Wahlbeteiligung besonders tief. Rund 60 Prozent der Iraner:innen boykottierten den Urnengang; in Teheran waren es gar über 75 Prozent. In Ghom soll die Wahlbeteiligung bei etwa 50 Prozent gelegen haben. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen nicht, aber sicher ist: Viele Menschen haben dem Regime den Rücken zugekehrt. «Diejenigen, die wählen gegangen sind, wurden nicht selten unter Druck gesetzt. Dazu gehören etwa Personen, die im öffentlichen Dienst arbeiten. Wer im Iran wählt, bekommt einen Stempel in seinen Ausweis. Wer vom Regime etwas will, wird auch daran gemessen», sagt Gholipour.

Die Repressionen gehen mit dem wirtschaftlichen Niedergang einher. Die internationalen Sanktionen und die zahlreichen innen- wie aussenpolitischen Konflikte schwächten die Landeswährung: In den vergangenen zehn Jahren verlor der Rial mehr als 93 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar. Dennoch zeigt sich die Aktivistin Saghi Gholipour nicht gänzlich pessimistisch. «Seit dem Beginn der ‹Frau, Leben, Freiheit›-Bewegung hat sich im Iran sehr viel gewandelt», sagt sie. «Das Video aus Ghom zeigt, wie die Menschen im Iran ticken: Sie lassen sich nicht mehr unterkriegen. Sie wollen nicht mehr zurück in ihr altes Leben in der Islamischen Republik, sie wollen einen Wandel und riskieren alles.»

Tatsächlich gibt es immer wieder Widerstand. Ende Januar wurde ein Mann hingerichtet, der an den «Frau, Leben, Freiheit»-Protesten teilgenommen hatte. Die Appelle seiner Mutter an das Regime, ihren 23-jährigen Sohn nicht zu töten, wurden ignoriert. Nur einen Tag nach der von der Familie eingelegten Berufung brachte das Regime ihn um. Rund sechzig Gefangene im berüchtigten Evin-Gefängnis traten daraufhin in den Hungerstreik, darunter die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi. Nur eine Woche später wurden vier kurdischstämmige Männer hingerichtet – Mitglieder der Komala-Partei, der Demokratischen Partei Kurdistans. Aus Protest blieben Geschäfte in den kurdischen Gebieten vorübergehend geschlossen.

Regimeanhänger:innen diffamierten die Mutter aus dem Video als «Saliteh», was im Persischen von «Hure» bis «mutige Frau» alles bedeuten kann. Daraufhin kreierten Regimegegner:innen den Hashtag «Ich bin eine Saliteh». «Der Widerstand gegen das Regime hält an, die Menschen reagieren mit Kreativität und Witz auf die Angriffe. Jeder weiss: Dieses Regime ist dem Ende nah. Die Revolution hat in den Herzen der Menschen schon längst stattgefunden», sagt Gholipour.