Jamal Khadar: «Country klang immer nach meiner Musik»

Nr. 16 –

Kolonialismus, Sklaverei und Migration seien klassische Country-Themen, sagt der Radiojournalist Jamal Khadar und erklärt, was es bedeutet, wenn Beyoncé als erste Schwarze Frau die US-Country-Charts anführt.

Albumcover des Samplers «Bulawayo Blue Yodel»
Von wegen Wildwest: Der Sampler «Bulawayo Blue Yodel» von 2019 präsentiert simbabwischen, ­kenianischen und südafrikanischen Country aus den 1950ern.   Foto: Mississippi Records, New York

WOZ: Jamal Khadar, in Ihrer Radiosendung «Reimagining Country» beschäftigen Sie sich mit Aspekten der Musikgeschichte, die dem weissen Image des Country alternative Erzählungen entgegenstellt. Was hat Sie zu dieser Arbeit geführt?

Jamal Khadar: Ich wollte irgendwann herausfinden, wieso meine Eltern eigentlich all diese amerikanischen Countryplatten hatten, obwohl niemand von ihnen in den USA aufgewachsen ist. Mein Vater ist aus Sierra Leone und meine Mutter ist jamaikanischer Abstammung, ihre Eltern sind in den Fünfzigern als Teil der sogenannten Windrush-Generation nach Grossbritannien gekommen. Unser Haushalt war immer sehr musikalisch. Meine Mutter singt und spielt verschiedene Instrumente. Mein Vater hat immerhin ein paar Gitarren, die er allerdings nie wirklich in die Hand nimmt. Zu Hause gab es diese grosse, sehr eklektische Plattensammlung – aber Country, Folk und Americana waren die absoluten Lieblingsfächer der beiden. Meine Mutter liebte die Platten von Patsy Cline, mein Vater hörte die Eagles, Jim Reeves, George Jones, auch Dolly Parton. Ich bin inmitten dieser Musik aufgewachsen, Country klang immer nach «meiner» Musik. Und als ich mit meinen Recherchen begonnen habe, bin ich sehr rasch auf die Geschichten einer globalen Schwarzen Diaspora gestossen, die ihre eigenen Countrytraditionen pflegt.

Wovon können Sie Ihren Radiozuhörer:innen erzählen?

Zum Beispiel von der Reise der Pedalsteelgitarre, die eigentlich ein hawaiianisches Instrument ist. Oder der westafrikanischen Herkunft des Banjos. Oder über das Yodelling.

Jodeln?

Ja. Sie kennen sicher das alpenländische europäische Jodeln. In Simbabwe gibt es ebenfalls eine reiche Jodeltradition namens Huro. Und in den USA machte Jimmie Rodgers Ende der 1920er Jahre das Jodeln mit seiner Cowboymusik populär. Vermutlich ist er dazu von europäischen Vaudevilles, einer Form des Unterhaltungstheaters, wie es um die Jahrhundertwende populär war, inspiriert worden. Jedenfalls hat dieser schwindsüchtige Typ aus Mississippi den sogenannten Blue Yodel für sich gepachtet und wurde damit zum vielleicht ersten Weltstar der Popgeschichte. Die Musik kam über Schellackplatten in der Welt herum und vermischte sich in Afrika mit bereits bestehenden Gesangstraditionen.

Der Countryforscher

Jamal Khadar (36) ist freier Journalist und Radiomacher. Seine Sendung «Reimagining Country» wird monatlich auf NTS (www.nts.live) ausgestrahlt. Er setzt sich darin mit der Geschichte Schwarzer Countrymusik auf der ganzen Welt auseinander. Khadar ist in Grossbritannien und den Niederlanden aufgewachsen und lebt heute in Amsterdam.

 

Portraitfoto von Jamal Khadar

Wie hört sich das an?

Wenn du dir frühe Aufnahmen von simbabwischem Country aus den Fünfzigern anhörst, findest du darauf dreierlei Yodel-Techniken: eine Art kopierten Blue Yodel nach Jimmie Rodgers, einen eher von der indigenen Tradition beeinflussten Yodel und allerhand Vermischungen der beiden. Oder hören Sie sich die Aufnahmen des sambischen Sängers Alick Nkhata oder des Kenianers Sammy Ngaku an, die beide ebenfalls gejodelt haben. Sie sind Teil der Geschichte, wie die Klänge des klassischen Country aus anderen Erdteilen nach Amerika kamen, von da in veränderter Form wieder um die Welt gingen – und manchmal sogar zurück zu den Orten fanden, wo sie einmal hergekommen waren. Es ist eine interessante musikalische Konversation, aber auch ziemlich chaotisch und zufällig. Ich sehe darin eine differenzierte Art von kultureller Aneignung.

Über den Begriff wird gerne gestritten.

Die Frage nach dem Machtgefälle ist dabei sicher zentral. Zum Glück sind wir mittlerweile darauf sensibilisiert, dass Künstler:innen aus dem Globalen Norden sich im Süden inspirieren lassen, sich sozusagen bedienen. Wir können Elvis oder die Beatles heute dafür kritisieren, wie sie sich Schwarzer Einflüsse, des Blues, Jazz und so weiter, bedient haben, damit reich geworden sind und für Genies gehalten werden. Aber: Wenn ich mir Countryremixes aus Nigeria, dem südlichen Afrika oder der Karibik anhöre, sehe ich eine andere Dynamik. Dann sind plötzlich People of Color im Globalen Süden die kreativen Veredler, die aus etwas Rohem und Ungeschliffenem wie etwa der alten Countrymusik eines Jimmie Rodgers eine für ihren Markt reizvolle Weiterentwicklung geschaffen haben. Ich finde das eine erfrischende Art der Betrachtung.

Es scheint, als könne Country vieles gleichzeitig sein: die Musik konservativer Trump-Wähler:innen und der Soundtrack einer weltweiten Schwarzen Diaspora. Was macht diese Musiktradition so universell?

Country ist voller Spannungen und Gegensätze: gemeinschaftlich und individualistisch, konservativ und rebellierend. Er ist unglaublich weiss und amerikanisch, aber eben auch dieses universelle Ding, das sich durch die gesamte Zeitgeschichte zieht.

Vor gut drei Wochen ist das Album «Cowboy Carter» erschienen und hat den Country weltweit zum Thema gemacht. Wir müssen über Beyoncé sprechen.

Einige Kritiker:innen fragen sich, ob jemand wie Beyoncé hier der Schwarzen Countrytradition wirklich Raum gibt oder ob sie am Ende deren Platz eher für ihre eigene Marke nutzt … Trotzdem ist es ein sehr wichtiger Moment: Zum ersten Mal beschäftigt sich der afroamerikanische Mainstream in dieser Grössenordnung mit der Idee von Schwarzer Countrymusik und ihrer Geschichte.

Und der weisse Mainstream?

Grosse Medien in Europa bringen hier zum ersten Mal Texte über Black Country, das hört sich dann meist so an: «Haben Sie gewusst, dass auch Schwarze Country machen?» Aber vielleicht beendet das dieses immer gleiche mediale Muster, sobald jemand Nichtweisses am Countryhorizont aufscheint. Das war ja bei Lil Nas X’ «Old Town Road» auch schon so. Eine andere Frage wäre doch: Was bedeutet es, wenn Country sich so offensichtlich vom Land wegbewegt? Und was erzählt es uns über die Musikindustrie, dass sie sich derzeit auf die Authentizitätsmaschine Country zu stürzen scheint?

Beyoncé ist nur das jüngste Beispiel, Lana Del Rey hat ebenfalls ein Konzeptalbum im Themenkleid angekündigt. Es soll «Lasso» heissen. Was sucht der Popzirkus im Country?

Country präsentiert sich als menschlich, bodenständig, er beschwört, all seinen offensichtlichen Individualismen zum Trotz, immer auch das Gefühl von Gemeinschaft. Und er ist sehr einfach zu referenzieren, zu remixen, wenn man so will. Nimm eine Pedalsteelgitarre oder ein Banjo: Direkt bist du mittendrin. Vielleicht wird das gerade dann besonders interessant, wenn die Mechanismen der Popmusik das Intime und Persönliche fast perfekt unterwandern, ich denke da an die Macht von Spotify-Playlists. Dann ist die Referenz auf Country ein gutes Mittel, um Authentizität zu verheissen.

Hat das auch einen konservativen Anteil?

Der Autor Aaron A. Fox hat recht treffend geschrieben: «Country wird reizvoll, wenn die Idee vom Landleben eine nostalgische Idee wird.» Natürlich kann Nostalgie auch eine Falle sein. Ein Rückgriff darauf, wie die Dinge vermeintlich einmal waren. Wir sehen das in der aktuellen rechtspopulistischen Politik in den USA und Europa ja sehr deutlich. In unserer Blase beschäftigen wir uns mit der wachsenden Präsenz von Nichtweissen oder Nichtmännern, die auch Country machen, wir suchen progressive Fragestellungen und begreifen diesen Rückgriff als Rückschritt. Denn wenn du irgendwo zu einer durchschnittlichen Countryshow aufs Land fährst, triffst du nach wie vor vor allem auf Leute, die rechtskonservativ wählen würden.

Was wäre eine progressive Umdeutung?

Wenn es Veränderungen gibt, alte Ordnungen belastet, Familienzusammenhänge auseinandergerissen werden, dann sind das die klassischen Countrythemen. So gesehen sind auch Kolonialismus, Sklaverei und Migration klassische Themen, denen wir im Country zuhören können.

Muss es um rurale Zusammenhänge gehen, damit etwas wirklich Country sein kann?

Das kulturelle Kennzeichen ist sicherlich «being country», also vom Land kommen, Land-Sein. Es geht um diese Leute und ihre Musik. Das betrifft in der engsten Definition natürlich vor allem den US-amerikanischen Süden. Aber dann gräbst du nur ein bisschen tiefer, und die Sache wird ziemlich schnell ziemlich komplex. Wenn man sich anschaut, wo Country heute herkommt, sind das meistens eher suburbane Orte. Und auch historisch gilt: Viele der sogenannten «old time»-Songs wurden in New York geschrieben, von professionellen und kommerziell interessierten Songschreibern, die an der Tin Pan Alley ihre Büros hatten. Und das betrifft ja erst mal nur den US-amerikanischen Country. Es ist also ziemlich unübersichtlich. Eigentlich muss man sich am Ende seine eigene Definition von Country erschliessen.

Was ist Ihre persönliche Definition?

Es geht ums Reisen. Viele Leute denken, Country drehe sich thematisch um ein «Alles bleibt beim Alten». Ich finde, es geht – vielleicht gerade deshalb – eher um die Veränderung. Wenn du von einem Dorf auf dem Land singst, dann meistens, weil du dieses Dorf vermisst. Es geht um die kleinen und grossen Reisen im Leben. Das ist sicher keine zulängliche Definition. Aber immerhin mein bester Versuch.

Ist Country musikalisches Heimweh?

Er eignet sich perfekt für diese universellen Themen. Das Verlassen und Verlassenwerden, das Vermissen. Ich denke manchmal an meine Grossmutter, wie sie im England der Fünfziger ankommt, in einer durchaus feindlichen und kalten Umgebung. Gegen das Heimweh hört sie Jim Reeves. Gerade für Menschen mit Migrationserfahrung reichert sich der Country mit einer Art zusätzlicher Bedeutung an. Von Yellowman gibt es diesen Dancehallklassiker, in dem eine solche biografische Erfahrung treffend verdichtet wird: «London cold, Jamaica nice. Country roads, take me home».