Jugendstrafrecht: Es gibt bessere Lösungen als die Verwahrung

Nr. 8 –

Der Nationalrat wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit möglich machen, dass auch junge Menschen verwahrt werden. Warum das gar nicht ins Jugendstrafrecht reinpasst.

Illustration von Maria Sulymenko

Ein junger Mann klettert über den Flachdachvorbau eines Solariums und gelangt durch ein Dachflächenfenster in das Innere der Liegenschaft. Dort vergeht er sich mehrmals an einer Prostituierten und tötet sie. So schildert das Bundesgericht den Mord, der sich am 10. Februar 2008 im Kanton Aargau ereignet hat. Der junge Mann – nennen wir ihn Bruno Biller – ist siebzehn Jahre alt, als er die Tat begeht.

Das alles ist lange her. Doch wenn am kommenden Mittwoch der Nationalrat über die Revision des Jugendstrafrechts (JStG) debattiert, schwingt der Mord mit. Biller war der Auslöser, weshalb im Gesetz festgeschrieben werden soll, dass man auch minderjährige Straftäter verwahren kann. Expert:innen wie die Berner Kriminologieprofessorin Ineke Pruin oder der emeritierte Basler Rechtsprofessor Peter Aebersold bezeichnen den Gesetzesentwurf als «Sündenfall». Die Verwahrung habe im Jugendstrafrecht nichts zu suchen, sagen sie.

Der Sündenfall

Ein wichtiger Grundsatz des Strafens lautet: Menschen werden für eine konkrete Tat bestraft – für ein leichtes Delikt erhält man eine leichte Strafe, für ein schweres eine lange Haftstrafe. Die Strafen sind befristet. Sind sie verbüsst, haben die Täter:innen gesühnt und kommen frei. Nicht so bei Personen, die als gefährlich gelten. Die Gesellschaft soll vor ihnen geschützt werden, weshalb sie nach Verbüssung der Strafe verwahrt werden. Präventiv hält man sie in Haft, bis sie nicht mehr als gefährlich gelten. Nur lässt sich das nicht so einfach feststellen, weshalb die Verwahrung oft Jahrzehnte dauert – was umstritten ist. Diese Problematik betrifft das Erwachsenenstrafrecht.

Hier geht es nun aber um Jugendstrafrecht, das einer anderen Logik folgt. Es fokussiert nicht aufs Strafen, sondern auf erzieherische und therapeutische Massnahmen. Die Heranwachsenden sollen eine Chance erhalten, ein normales, deliktfreies Leben zu führen. Das funktioniert sehr gut, weil sich die jungen Menschen noch in einem Reifungsprozess befinden. Die Gehirnregionen, die helfen, destruktives Verhalten zu kontrollieren, sind relativ spät fertig ausgebildet. Neurologisch betrachtet ist dieser Entwicklungsprozess erst mit Mitte oder Ende zwanzig abgeschlossen.

Fast alle Fachleute, die mit straffälligen Jugendlichen arbeiten, sind sich einig, dass die Idee der Verwahrung deshalb der Grundidee des Jugendstrafrechts zuwiderläuft. Trotzdem wird der Nationalrat mit grosser Wahrscheinlichkeit die vorliegende Revision durchwinken. Und das hat mit Bruno Biller zu tun.

Die Rüge aus Strassburg

Wenige Tage nach der Tat wird Biller festgenommen. Ein Jugendgericht verurteilt ihn zu vier Jahren Haft. Das ist die Höchststrafe, die das Jugendstrafgesetz vorsieht. Im Urteil heisst es, Biller habe besonders «skrupellos, krass egoistisch und kaltblütig» gehandelt. Laut dem damals geltenden JStG müsste Biller spätestens mit 22 Jahren freigelassen werden.

Als der Tag der Entlassung naht, haben die Behörden ein schlechtes Gefühl. Sie fürchten, der junge Mann könnte erneut eine schwere Tat begehen. Um ihn nicht freilassen zu müssen, greifen sie zu einem Trick: Sie verhängen eine sogenannte fürsorgerische Freiheitsentziehung. Dieses Gesetz ist aber gemacht, um Menschen, die sich selber schädigen könnten (zum Beispiel Suizid begehen), gegen ihren Willen in eine geschlossene Institution einzuweisen.

Biller wehrt sich vor Gericht gegen die fürsorgerische Unterbringung. Er klagt durch alle Instanzen, blitzt aber auch vor Bundesgericht ab. Das Bundesgericht argumentiert im Sinne der Behörden: Die fürsorgerische Freiheitsentziehung sei im Fall Billers zu Recht erfolgt, weil man bei ihm eine psychische Erkrankung diagnostiziert habe («sexueller Sadismus» und eine «Persönlichkeitsstörung des antisozialen Typs»). Wegen dieser Erkrankung gefährde Biller andere Menschen. Woraus das Bundesgericht folgert: «Wer die Sicherheit anderer bedroht, ist persönlich schutzbedürftig.» Anders formuliert: Biller muss weggesperrt werden, um ihn davor zu schützen, dass er jemandem etwas antut. In Jurist:innenkreisen löst das Urteil heftige und kontroverse Diskussionen aus.

Biller zieht das Urteil weiter an den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof gibt ihm recht. Er schreibt, Biller sei ohne gesetzliche Grundlage und nur zu präventiven Zwecken in der Strafanstalt inhaftiert gewesen. Die Schweiz wird deswegen 2019 vom Gerichtshof gerügt. Zu jenem Zeitpunkt ist Biller allerdings bereits frei. Kurz zuvor hatte ein Schweizer Gericht entschieden, seine fürsorgerische Freiheitsentziehung (die inzwischen fürsorgerische Unterbringung heisst) sei «aufgrund der positiven Entwicklung» aufzuheben.

Die Sicherheitslücke

In der Zwischenzeit hat der Innerrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni das Thema aufgegriffen und unter dem Titel «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen» eine Motion eingereicht. Der Bundesrat bereitet daraufhin die Revision des JStG vor, die auch die Verwahrung von Heranwachsenden vorsieht.

Der erste Entwurf geht in die Vernehmlassung. Die meisten Rückmeldungen sind sehr kritisch. Die Schweizerische Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege schreibt zum Beispiel in fetten Lettern, sie sei «den Zielen und Werten der Kinderrechtskonvention und des Jugendstrafrechts verpflichtet» und könne sich deshalb «nicht hinter die vorgeschlagene Regelung stellen». Auf mehreren Seiten demontiert sie die Vorlage.

Der Ständerat hat die Vorlage im letzten Jahr diskutiert und diverse kritisierte Punkte gestrichen. Im Nationalrat steht nun folgende Variante im Zentrum der Debatte: Ein «junger Erwachsener», der älter als sechzehn ist, kann nach Erreichen der Volljährigkeit verwahrt werden, wenn er wegen Mord verurteilt wurde und wenn «ernsthaft zu erwarten ist, dass er erneut einen Mord begeht».

Die Lösung

Kriminologieprofessorin Ineke Pruin nennt es ein «Einzelfallgesetz». So eng formuliert, werde es wohl kaum zur Anwendung kommen, ist sie überzeugt. Laut Bundesamt für Statistik wurden zwischen 2010 und 2020 zwölf Minderjährige wegen Mord verurteilt. Man könnte also gelassen sein. Pruin fürchtet jedoch, dass die Verschärfung lediglich der erste Schritt ist. Sie verweist aufs Ausland. Manche Länder wie Grossbritannien, die Niederlande oder Belgien sind bereits dazu übergegangen, bei schweren Straftaten Minderjährige wie Erwachsene zu behandeln. Das läuft unter dem Schlagwort «adult time for adult crime» (Erwachsenenstrafen für Erwachsenenverbrechen, also zum Beispiel lebenslänglich für Mord), was dem Geist des Jugendstrafrechts fundamental widerspricht.

Peter Aebersold sieht die Verwahrung im JStG genauso kritisch wie Pruin, hofft aber, dass dank der Verschärfung die Debatte «adult time for adult crime» gar nicht erst auf die Schweiz überschwappt. Er hat schon vor längerem einen Vorschlag präsentiert, mit dem sich Caronis monierte «Sicherheitslücke» elegant schliessen liesse: Als Biller noch inhaftiert war, mussten minderjährige Straftäter mit 22 aus der staatlichen Obhut entlassen werden. Heute können sie bis 25 in einer Institution untergebracht sein. Manche würden aber noch länger brauchen, sagt Aebersold, weshalb er die Altersgrenze auf 30 anheben würde. So hätte man genügend Zeit, die jungen Mensch auf ein deliktfreies Leben vorzubereiten. Und man bräuchte nicht über die Verwahrung nachzudenken. Abgesehen davon – so Aebersold – sagten alle Forensiker:innen, es sei gar nicht möglich, zuverlässig zu diagnostizieren, ob ein junger Mensch nochmals einen Mord begehen werde.

Gibt es Daten über die Rückfälligkeit von jungen Mörder:innen? Ihr sei nichts bekannt, sagt Kriminologin Pruin: «Aber wenn diese Straftäter mit einer schweren Tat rückfällig würden, würden wir das garantiert mitbekommen.» Pruin fügt an, die aktuelle kriminologische Lebenslaufforschung zeige eindeutig, dass praktisch alle minderjährigen Straftäter:innen wieder aus der Kriminalität aussteigen würden – unabhängig von der Höhe oder Art der verhängten Strafen. Sie konstatiert wie Aebersold: «Manche brauchen einfach etwas länger.»

Bruno Biller scheint es auch geschafft zu haben. Seit fünf Jahren ist er draussen, und man hat nichts mehr von ihm gehört.