Barrierefreie Mobilität: Schon wieder ein Hindernis!

Nr. 46 –

Bis Ende Jahr muss der öffentliche Verkehr hindernisfrei zugänglich sein. So hat es die Schweiz vor zwanzig Jahren ins Gesetz geschrieben. Viele Verkehrsbetriebe haben aber die Anpassung verschlafen. Drei Menschen berichten von ihrem Alltag voller Hürden.

grosse Lücke zwischen dem Bahnsteig und der Zugtüre
Zug: Plötzlich tut sich im «barrierefreien» Hauptbahnhof ein unüberwindlicher Abgrund auf.

Ganz gemein ist es am Bahnhof Zug. Eine Bekannte berichtet davon, die mit einem Elektrorollstuhl unterwegs ist. Sie hatte einen Termin in der Stadt Zug. In der SBB-App hiess es, der Bahnhof sei barrierefrei. Doch als sie aussteigen wollte, öffnete sich vor ihr ein fast unüberwindlicher Abgrund. Die Waggons stehen an diesem Bahnhof in einer Kurve und neigen sich. Deshalb ist der Ausstieg erhöht und von der Kante entfernt. Man muss runtersteigen und eine Spalte von geschätzt fünfzig Zentimetern überwinden. Sie, die agile Rollstuhlfahrerin, holte etwas Anlauf und überwand die Spalte mit Schuss. Andere, die nicht so wagemutig und erfahren seien, könnten das nicht, sagt sie. Was tut man dann? «Dann verpasst man den Termin, fährt weiter bis zum nächsten Bahnhof, den man mit dem Rollstuhl ebenerdig verlassen kann, und schaut, ob man irgendwie sein Ziel doch noch erreicht», sagt sie und lacht.

Rund zwanzig Prozent der Menschen in der Schweiz leben mit irgendeiner Form der Beeinträchtigung. Irgendwann gehören fast alle zu dieser Gruppe: Spätestens wenn man alt und gebrechlich ist, ist man darauf angewiesen, dass der öffentliche Verkehr barrierefrei funktioniert. Bis Ende Jahr sollte das Realität sein. So steht es im Behindertengesetz, das am 1. Januar 2004 in Kraft trat. Darin wurde festgehalten, dass die Verkehrsbetriebe zwanzig Jahre Zeit haben sollten, ihren Betrieb barrierefrei zu gestalten. Vor einem halben Jahr hat der Bundesrat nun Bilanz gezogen. In seinem Bericht «Zugänglichkeit für Menschen mit einer Behinderung zum öffentlichen Verkehr» listet er detailliert auf, wie weit die Schweiz ist. Das Ergebnis ist ernüchternd: Von den schweizweit 1800 Bahnstationen werden 541 Ende Jahr nicht barrierefrei sein. «Gegenüber dem letzten Standbericht hat sich die Zahl der Bahnhöfe, die verspätet umgebaut werden, nochmals deutlich erhöht», schreibt der Bundesrat in seinem Bericht. Allerdings können heute 82 Prozent aller Zugreisenden von «behindertengerechten Umbauten» profitieren, vor zwei Jahren waren es erst 73 Prozent. Vor allem im Bahnbereich hat sich in den letzten vier, fünf Jahren doch einiges bewegt. Ein Grossteil des Rollmaterials hat Niederflureinstiege. Grössere Defizite gibt es noch im grenzüberschreitenden Verkehr.

Im Busverkehr sieht es übler aus. Erst ein Drittel der Bushaltestellen sind gesetzeskonform ausgestaltet, bei fast der Hälfte «sind derzeit keine eindeutigen Aussagen möglich», wann sie vielleicht einmal barrierefrei würden, steht im bundesrätlichen Bericht. «Wir schätzen, dass bis Ende Jahr siebzig Prozent aller Bus- und Tramhaltestellen nicht autonom und spontan von Menschen mit Behinderungen genutzt werden können», konstatiert Jonas Gerber von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen der Schweiz. Viele Verkehrsbetriebe hätten es einfach verschlafen, ihre Infrastruktur anzupassen: «Die betroffenen Menschen spüren die Auswirkungen jeden Tag und sind dementsprechend frustriert und ungeduldig.» Inclusion Handicap fordert, dass die Verkehrsbetriebe jetzt verbindlich in die Pflicht genommen werden. Die Kontrolle müsse effektiver werden, die Umsetzungsziele müssten regelmässiger überprüft, aber auch die Finanzierung sichergestellt werden. Im Eisenbahnbereich steht für diese Aufgaben das Bundesamt für Verkehr in der Pflicht. Beim öffentlichen Strassenverkehr müsste ein neues Gremium gebildet werden, das gesamtschweizerisch die Barrierefreiheit bei Bus und Tram koordiniert und kontrolliert; für deren Haltestellen sind Kantone und Gemeinden zuständig.

Es braucht aber auch ein allgemeines Sensorium für die Problematik. Die Selbsthilfeorganisation Procap bietet entsprechende Sensibilisierungskurse an. Regula Schütz, Louis Amport und Regula Bersinger engagieren sich bei Procap und bringen anderen nahe, wie es ist, nichts zu sehen, schlecht zu hören oder im Rollstuhl zu sitzen. Hier berichten sie über ihren Mobilitätsalltag in einer Welt voller Baustellenlärm, unachtsamer Passant:innen und blockierter Leitsysteme.


Regula Schütz unterwegs auf dem Trottoir
Regula Schütz: «Eigentlich müsste ich jeden Ampelpfosten persönlich kennen.»

Regula Schütz (58) lebt und arbeitet in Bern. Die ausgebildete Kindergärtnerin ist als Telefonistin und Lehrerin für Blindenschrift tätig und bringt Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung die Bedienung von iPhones bei. Aufgrund einer Netzhautdegeneration ist sie seit rund dreissig Jahren blind. Sie mag Sport, Tandemfahren, Tanzen, Kochen, Handarbeiten, Lesen, Reisen – «ich habe immer mehr Ideen als Zeit».

Montag: Fast ein Ferientag. Ich muss geschäftlich nach Zürich, aber zusammen mit meinem Vorgesetzten. Also sind mir die quietschenden Züge und die hämmernden Baugeräusche im Bahnhof Bern egal. Wenn ich alleine unterwegs bin, kann ich mich kaum orientieren, weil die leiseren Geräusche, die ich für die Orientierung brauche, vom Lärm übertönt werden. Im Hauptbahnhof Zürich habe ich überhaupt keine Chance, mich selbstständig zurechtzufinden. Ich bin viel zu selten dort, kenne deshalb das taktile Leitsystem mit den weissen Linien nicht. Der Zürcher Bahnhof hat zu viele Ebenen, Zwischengeschosse und Gänge, das macht es extrem unübersichtlich. Heute bin ich aber nicht allein, deshalb ist alles sehr entspannt.

Dienstag: Bürotag. Ich bin etwas spät dran und renne die Treppe hinunter. Kleiner Schreck: Auf einer Treppenstufe beim untersten Absatz steht ein grosses Paket – für mich eine Stolperfalle. Also dran denken: Immer auf alles gefasst sein, immer am Geländer festhalten, auch in vertrauter Umgebung. Und nie pressieren, auch wenn ich spät dran bin!

Am Mittag will ich im nahen Einkaufszentrum etwas zu essen kaufen. Relaxt gehe ich dem Trottoir entlang, ich kenne ja den Weg – plötzlich fege ich mit dem Stock ein Warnschild beiseite, das dort eigentlich nicht hingehört. Das Schild weist darauf hin, dass in dem Bürohaus die Fenster gereinigt werden, wie mir ein Passant nachher sagt.

Am Abend möchte ich ins Fitness, starke Windböen fegen durch die Strassen. Ich muss mich noch mehr als üblich konzentrieren. Der Wind ist laut und macht das Geradeausgehen schwieriger. Glücklicherweise kommt der angesagte Regen nicht. Nasse Strassen verursachen mehr Lärm, das macht die Orientierung noch anspruchsvoller.

Mittwoch: Ich habe frei und gehe einkaufen. Das Geschäft kenne ich, frage aber trotzdem um Unterstützung, denn alleine würde ich keinen einzigen Artikel finden. Als ich den Laden verlasse, erwische ich nicht den korrekten Winkel, um aus dem Innenhof herauszufinden. Nach einigem Suchen finde ich den Durchgang. Noch kurz in die Bäckerei. Als ich die Tür öffne, merke ich am Geruch, dass ich mich geirrt habe. Es wäre der nächste Eingang gewesen. Eigentlich hätte ich es früher merken können: Die eine Tür hat eine Türfalle, die andere einen senkrechten Türgriff.

Die Strassenkreuzung in der Nähe meiner Wohnung kenne ich gut, die kann ich problemlos überqueren. Ich finde die Ampeln, drücke den Knopf der Ampelarmatur, die eine Vibration auslöst, sobald die Grünphase beginnt. An Orten, die mir nicht vertraut sind, ist das schwierig. Eigentlich müsste ich jeden Ampelpfosten persönlich kennen, da es in der Schweiz leider nicht üblich ist, dass die Ampeln akustisch auffindbar sind. In Wien beispielsweise ticken die Ampeln ständig leise, so sind sie leicht zu finden.

Donnerstag: Ich habe am Mittag in der Stadt abgemacht. Die SBB-App zeigt eine Störung im Busverkehr an. Glücklicherweise erwische ich den ersten Bus, der wieder regulär fährt. Die ganze Strecke zu Fuss zurückzulegen, wäre stressig und zeitaufwendig gewesen.

Fahrräder versperren die Leitlinien am Hauptbahnhof Zürich
Hauptbahnhof Zürich: Immer steht jemand oder etwas auf den Leitlinien. 

Freitag: Ich mache einen Besuch in Trubschachen und bin froh, zu Fuss unterwegs zu sein. Mit Rollstuhl aussteigen kann man an diesem Bahnhof, einsteigen in Richtung Bern geht aber nicht, da das Perron noch nicht erhöht ist. Es gibt am Perronrand eine provisorische Stufe aus Metall, weil man sonst nicht in die Niederflurwaggons reinkommt. Nicht ganz einfach, aber machbar für mich. Die Zugbegleiterin hat mich glücklicherweise bei der Ankunft des Zuges darauf hingewiesen. Sie hatte mich schon auf dem Perron in Bern angesprochen, mir die Zugtür und einen Sitzplatz gezeigt. Ausserdem hatte sie mir angeboten, in Trubschachen beim Aussteigen zu helfen, das macht das Reisen entspannter. Wenn niemand da ist, der hilft, und ich auch rechtzeitig daran denke, schaue ich schon beim Einsteigen, wo der Halteknopf angebracht ist, damit ich wieder aus dem Zug rauskomme.

Am Abend auf dem Heimweg überquere ich eine Strasse einige Meter neben dem Fussgängerstreifen, da ich eine Absenkung des Trottoirs falsch interpretiert habe. Die Absenkung zeigt oft an, dass da der Fussgängerstreifen ist. Als ich ungefähr in der Strassenmitte bin, schreit jemand von der anderen Seite: «Aaachtung!» Ich bleibe stehen. Ein Auto braust an mir vorbei. Keine Ahnung, ob der Lenker mich gesehen hat.

Samstag: Ich will für eine Freundin in einer Arztpraxis beim Berner Bahnhof etwas abholen gehen. Ich finde zwar den Lift, verstehe aber nicht, wie er für mich bedienbar ist, er hat einen Touchscreen. Ohne helfende Passant:innen wäre ich aufgeschmissen.

Auf dem Weg zum Bus stosse ich unsanft mit der Schulter an den Lenker eines Trottinetts, das auf dem Trottoir abgestellt wurde. Die Leitlinien helfen eigentlich sehr, stünden da nicht immer wieder Menschen, Gepäckstücke oder andere Dinge darauf. An diesem Samstag habe ich vier solche Begegnungen. Ein Mensch stolpert über meinen weissen Stock und wäre fast hingefallen, weil er mit Stöpseln im Ohr auf sein Handy gestarrt hat, wie mir nachher jemand sagt.

Sonntag: Auf dem Weg vom Bus zum Fitnesscenter will ich einen eleganten Bogen ums Werbeplakat der Bäckerei machen und werfe es fast um: Ausgerechnet heute steht es gleich bei der Eingangstür und nicht wie üblich am Trottoirrand.

Auf dem Heimweg treffe ich am Bahnhof zufälligerweise eine Kollegin, wir unterhalten uns ein paar Minuten. Sie muss auf den Zug, läuft los. Ich habe mich während unseres Gesprächs wohl etwas bewegt und gehe nun in die falsche Richtung weiter. Als ich es merke, dauert es einige Zeit, bis ich wieder weiss, wo ich bin und wie ich zur Bushaltestelle komme. Eine erfreuliche Ablenkung kann blöd enden.


Louis Amport mit dem Rollstuhl an einem Bahnhof
Louis Amport: «Ich muss mich mindestens eine Stunde vorher anmelden, damit das Bahnpersonal den Rollstuhllift bereitstellt.»

Louis Amport (32) lebt in Schüpfen zwischen Bern und Biel. Ursprünglich machte er eine kaufmännische Lehre, vor einem Jahr hat er seine eigene Firma gegründet. Sie berät und begleitet Unternehmen im Bereich Inklusion, macht aber auch regelmässig Schulungen für Procap. Wegen einer Cerebralparese, die seine Motorik einschränkt, ist Amport auf einen Rollstuhl angewiesen. In der Freizeit tanzt er mit seiner Partnerin Tango.

Montag: Tagsüber arbeite ich im Homeoffice, um 17 Uhr habe ich ein Meeting in Bern. Der Zug hat Verspätung. Um sicher pünktlich zu sein, hätte ich einen früheren Zug nehmen müssen und wäre 25 Minuten zu früh gewesen. Der Einstieg auf dem Bahnhof in Schüpfen läuft problemlos, auf der Strecke verkehren immer Niederflurzüge.

Dienstag: Ich muss an eine Schulung von Procap nach Zürich. Die Schulung beginnt morgens um halb neun. Das heisst: um fünf Uhr aufstehen. Solche Reisen wollen genau geplant sein, inklusive Puffer, da der Ein- und Ausstieg nicht autonom ist: Die Waggons haben an den Türen Stufen. Deshalb muss ich mich mindestens eine Stunde vorher anmelden, damit das Bahnpersonal den Rollstuhllift bereitstellt und mir hilft. Das lässt sich aber per Telefon leicht organisieren. An diesem Morgen läuft es reibungslos. Um Viertel vor acht bin ich in Zürich vor Ort.

Nach der Schulung muss ich rasch los, um das Tram zu erwischen. In Zürich sind auch noch alte Trams im Einsatz, die Stufen haben. Kommt ein solches, kann ich es nicht benutzen. Der Chauffeur hilft mir auch nicht beim Einsteigen. Ich darf den Zug nicht verpassen, weil ich ja die Einstiegshilfe organisiert habe. Zum Glück klappt alles reibungslos. Wenn ich den Zug verpasse, muss ich mich neu anmelden und unter Umständen eine Stunde warten. Das SBB-Personal, das beim Einsteigen hilft, muss extra aufgeboten werden. Manchmal müssen sie dafür von einem anderen Bahnhof anreisen.

provisorische Stufe am Bahngleis, Bahnhof Siebnen SZ
Stolperfalle: Provisorische Stufe am Bahnhof Siebnen SZ.
Treppenaufgang zum Gleis am Bahnhof Siebnen SZ
Bahnhof Siebnen SZ: Aufstieg unmöglich für Rollstuhlfahrer:innen ohne Begleitung.

Mittwoch/Donnerstag/Freitag: Einige routinierte Zugfahrten nach Luzern und Bern, einige auch mit dem Auto. Meine Partnerin hat mich chauffiert, ich selber lerne erst Autofahren.

Samstag: Ein Ausflug mit den Eltern und Schwiegereltern aufs Stockhorn. Wir fahren mit dem Auto zur Talstation. Für die beiden Seilbahnen muss ich nichts organisieren, weil der Zugang barrierefrei ist. Schwierig können Ausflüge sein, bei denen man ein Postauto nutzen möchte. Bei den älteren Modellen, die beim Einstieg Stufen haben, kommt man alleine nicht rein. Da muss man den Chauffeur dazu bringen, einem zu helfen. Grundsätzlich ist das Personal aber sehr hilfsbereit – ausser es ist im Stress.


Regula Bersinger unterwegs an einer Strasse
Regula Bersinger: «Es löst grossen Stress aus, wenn ich beim Telefonieren etwas nicht verstehe.»

Regula Bersinger (56) lebt in Weggis am Vierwaldstättersee, hat vier Hunde der freundlichen niederländischen Rasse Kooikerhondje und will im nächsten Jahr zu züchten beginnen. Bersinger leidet an einer vererbbaren Krankheit und hörte schon als Kind schlecht. Seit drei Jahren trägt sie neben den Hörgeräten auf einer Seite ein Cochleaimplantat, eine Hörprothese, die direkt mit der Hörschnecke verbunden ist. Dieses Implantat erlaubt selbst vollständig gehörlosen Menschen, Sprache wieder zu verstehen. Bersinger findet es falsch, dass Schwerhörige sich oft schämen und versuchen, ihre Hörgeräte zu verbergen. Sie wünscht sich eine Vielfalt an peppigen Hörhilfen. Die Umgebung würde so sofort mitbekommen, dass sie Rücksicht auf die Einschränkungen ihrer Gesprächspartner:innen nehmen muss. Bersinger arbeitet in den Sensibilisierungsprogrammen von Procap mit und berät Menschen, die sich eine Cochleaprothese implantieren lassen möchten.

Samstag: Heute sind Lozärner Määs und Lunapark angesagt. Mein Lebenspartner Daniel und ich fahren mit Bus und Zug in die Stadt. Ich bin oft mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs. Da ich weder am Bahnhof noch im Zug oder Bus die Lautsprecher verstehe, bin ich auf die Bildschirme angewiesen, auf denen die Haltestellen angezeigt werden. Sind sie defekt, bin ich vor allem in fremden Städten aufgeschmissen. Diesmal bin ich aber in Begleitung und reise entspannt.

Vom Luzerner Bahnhof gehen wir Richtung Lunapark, als plötzlich der Boden zu schwanken scheint. Ich stehe abrupt still – und gleich ist es wieder vorbei. Wenn ganz hohe Töne auftreten, passiert mir das manchmal. Ich habe vor geraumer Zeit die Lautstärke des Implantats aufs Maximum angehoben, seither höre ich diese Töne. Ich möchte sie nicht missen, denn jetzt kann ich Gesprächen optimal folgen. Die Hintergrundgeräusche sind zwar auch lauter geworden. Trotzdem: Selbst im Menschengewühl verstehe ich meinen Gesprächspartner prächtig, was früher nie möglich gewesen wäre.

Sonntag: Am Morgen fahren wir mit dem Auto an die Reuss, um mit unseren Hunden zu spazieren. Ich höre den Fluss plätschern. Daniel nimmt mich abrupt auf die Seite: «Pass auf, Velofahrer kommen von hinten!» Schon rasen E-Biker an uns vorbei. Ich höre mit dem Cochleaimplantat erstaunlich gut – aber nicht Geräusche, die von hinten kommen. Richtungshören ist ebenfalls schwierig. Bald werde ich ein zweites Implantat erhalten, damit soll sich das verbessern.

Montag: Kurz nach sieben fahre ich mit dem Auto los nach Steinen, um dort mit meinen Hunden zu trainieren. Unsere Garagenausfahrt ist eine kleine Herausforderung. Rückwärts geht es in eine Privatstrasse, danach in die Quartierstrasse rein. Da ich nicht höre, von welcher Seite die Geräusche kommen, muss ich akribisch schauen, ob von irgendwoher ein Auto oder ein Motorrad kommt.

Nach dem Training gehe ich mit einem Bekannten spazieren. Er spricht eher leise. Der Weg führt ein kurzes Stück der Autobahn entlang. Es ist eine Herausforderung, seine Stimme aus dem enormen Geräuschpegel herauszufiltern. Wenn ich müde bin, drifte ich ab und kann dem Gespräch nicht mehr folgen.

Arbeiter mit Presslufthammer auf der Baustelle beim Zürcher Hauptbahnhof
Von wo kommt dieses Geräusch? Grosser Lärm kann Menschen mit Gehörproblemen die Orientierung stark erschweren.

Dienstag: Am Morgen mache ich eine Wanderung mit den Hunden. Manchmal treffen wir Kühe an. Ich höre sie schon von weitem, weiss aber nicht, wo sie stehen: weiter oben, weiter unten, links oder rechts? Bis ich sie auf der Wiese sehe. Auf einer Feldstrasse höre ich unvermittelt ein Motorengeräusch und erschrecke. Kommt es von hinten? Von vorne? Ist es ein Traktor? So schnell das laute Geräusch gekommen ist, vergeht es wieder. Vielleicht war es ein Helikopter? Ich weiss es nicht. Das Handy klingelt. Es ist mein Lebenspartner. Rundherum ist es ruhig, ich nehme den Anruf an. Bei einer fremden Person hätte ich das unterwegs nicht gemacht, aber Daniel verstehe ich auch am Telefon gut.

Telefonieren ist trotz Implantat immer noch schwierig. Früher verstand ich die Menschen am Telefon kaum. Noch immer löst es grossen Stress aus, wenn ich beim Telefonieren etwas nicht verstehe. Sobald der Stresspegel hoch ist, verschlechtert sich meine Hörfähigkeit.

Mittwoch: Heute steht viel Büroarbeit an. Die Baustelle hinter dem Haus ist wieder laut. Ich entscheide mich, meine Hörhilfen allesamt auszuziehen. Nun höre ich nichts mehr. Alles ist ruhig. Ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit kommt auf, das sich schnell wieder legt. Die Hunde werden mich informieren, wenn jemand kommt.

Ich bin daran, eine Zugreise nach Holland zu planen. Ein bisschen bang ist mir. Vor zwei Jahren war ich alleine in Deutschland unterwegs. Der Zug hielt an einem Bahnhof, alle stiegen aus. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Also fragte ich jemanden. Es hiess, der Zug falle aus. Ich begann zu schwitzen. Zum Glück traf ich auf einen Zugbegleiter. Er sagte mir, ich müsse eine andere Zugverbindung nehmen. Mit diesem Zug fuhr ich weiter, bis auch er stoppte – wieder Zugausfall. Ich fragte wieder nach und erhielt eine neue Verbindung. Die Zugbegleiterin teilte mir dann aber mit, mein Sparticket gelte nicht für diesen Zug, ich müsse am nächsten Bahnhof aussteigen. Ich ging auf die Toilette und wartete dort ein paar Stationen. In der Zwischenzeit hatte ein anderer Zugbegleiter übernommen. Er behelligte mich nicht mehr, und so kam ich doch noch an.

Freitag: Am Morgen setze ich mein Cochleaimplantat auf. Schreck! Das Implantat lag nicht richtig auf der Ladestation und funktioniert nicht. Was jetzt? Die Hörgeräte sind zwar geladen, aber mit ihnen allein verstehe ich fast nichts. Um 8 Uhr habe ich einen Arzttermin. Ich stelle das Implantat auf die Ladestation und suche nach dem Reiseladekabel, gleichzeitig lade ich meine Powerbank auf. Damit kann ich das Implantat im Auto weiter laden und gleichzeitig hören. Ohne Implantat fühle ich mich im Strassenverkehr sehr unsicher.

Am Nachmittag fahre ich mit dem Bus nach Küssnacht, um einzukaufen. Auf der Rückreise steht der Bus vor einem Lichtsignal. Der Chauffeur sagt etwas über den Lautsprecher. Ich verstehe ihn nicht. Viele Leute verlassen den Bus. Erschrocken steige ich ebenfalls aus. Die Leute gehen in den hinteren Bus. Ich weiss nicht, was ich tun soll, alles geht zu rasch. Beide Busse fahren weiter. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuss 45 Minuten nach Hause zu gehen. Mein Fehler, ich hätte den Chauffeur fragen müssen, was los ist.