Türkei vor den Wahlen: Die Konkurrenz wird weggesperrt

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Der grösste Rivale ist ausgeschaltet, die Opposition noch nicht bereit: Mit der Vorverschiebung des Wahltermins sichert sich Präsident Erdoğan die Wiederwahl. Und auch die grosse Verliererin steht bereits fest.

Ein symbolträchtigeres Datum hätte sich Recep Tayyip Erdoğan nicht aussuchen können: Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sollen am 14. Mai abgehalten werden, rund einen Monat früher als ursprünglich angekündigt. So will es der Präsident. An jenem Datum im Jahr 1950 gewann Adnan Menderes von der Demokrat Parti die ersten demokratischen Wahlen der Republik und beendete damit die Einparteienherrschaft der kemalistischen CHP, die die Republik seit ihrer Gründung im September 1923 regiert hatte.

Zehn Jahre lang prägte Menderes als Ministerpräsident das Land, bevor er 1960 in einem Militärputsch – dem ersten in der Türkei – gestürzt und ein Jahr später am Galgen hingerichtet wurde. Bis heute ist das brutale Ende des insbesondere bei der Landbevölkerung sehr beliebten Politikers ein schwarzer Tag für die Konservativen. Erdoğan vergleicht sich gerne mit Menderes, er hat ihn auch schon als sein politisches Idol bezeichnet.

Bündnis ohne Kandidat:in

Die Doppelwahlen waren zunächst auf den 18. Juni angesetzt. Am Sonntagabend hat Erdoğan aber erklärt, seine regierende AKP habe sich mit ihrem Koalitionspartner, der ultrarechten MHP, auf eine Vorverschiebung geeinigt, um zu verhindern, dass Termine für Schulprüfungen und religiöse Feiertage gestört würden. Das ist freilich bloss ein Vorwand: Tatsächlich dient die Vorverlegung dazu, die Opposition in Zeitnot zu bringen.

Um die Ägide von Langzeitherrscher Erdoğan beenden zu können, haben sich für die anstehenden Wahlen sechs Oppositionsparteien zusammengeschlossen. Sie werben gemeinsam damit, das Präsidialsystem abschaffen und zu einer parlamentarischen Demokratie zurückkehren zu wollen – nachdem 2017 das Referendum zur Einführung eines präsidialen Systems an der Urne angenommen worden war. Seit seiner Wiederwahl 2018 ist Erdoğan damit zugleich Staats- und Regierungschef, und seine Amtsführung wurde in dieser Zeit zunehmend unberechenbarer und autoritärer; nun kandidiert er zum dritten Mal für die Präsidentschaft, obwohl verfassungsrechtlich umstritten ist, ob er das überhaupt darf.

Zum oppositionellen Sechserbündnis ge­hören auch die sozialdemokratische CHP und die nationalistische İyi Parti, die gemäss Umfragen bei den Parlamentswahlen zulegen dürften. Aber bis heute hat die Allianz keine Kandidat:innen für das Präsidialamt vorgestellt, und einen aussichtsreichen Konkurrenten hat Erdoğan bereits ausschalten lassen: Ekrem İmamoğlu, populärer Bürgermeister von Istanbul (CHP), wurde im Dezember von einem Strafgericht mit einem Politikverbot belegt und zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt. Der Grund: İmamoğlu soll Beamte der Wahlbehörde als «Idioten» bezeichnet haben, als diese die Bürgermeisterwahl im Jahr 2019 wiederholen liessen. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, der Bürgermeister will Berufung einlegen. Aber allein schon wegen der drohenden Bestätigung des Urteils gilt seine Aufstellung als zu riskant.

Auch Meral Akşener, die Vorsitzende der İyi Parti, hat Interesse an einer Kandidatur angedeutet. Allerdings werden der Ultranationalistin, die in der Vergangenheit auch durch kurd:innenfeindliche Rhetorik aufgefallen ist und nach einem internen Machtkampf aus der MHP ausgeschlossen wurde, wenig Chancen eingeräumt. So ist es am wahrscheinlichsten, dass Kemal Kılıçdaroğlu für die Opposition antritt, seit 2010 Vorsitzender der CHP. Er hat aber bisher noch keine einzige Wahl gegen Erdoğan gewinnen können, und laut Umfragen hat er auch diesmal kaum Chancen.

Weil die Regierung die meisten Medien direkt oder indirekt im Griff hat, kann von freien oder fairen Wahlen ohnehin nicht die Rede sein. Und wie auch immer sie ausgehen werden, eine Verliererin gibt es bereits: die prokurdische, linksgerichtete Oppositionspartei HDP. Sie ist nicht Teil des oppositionellen Sechserbündnisses. Über der drittstärksten Partei im Parlament schwebt ein Verbotsverfahren: Ihr wird vorgeworfen, der politische Arm der als Terrororganisation eingestuften türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein, was die HDP aber abstreitet. Noch im Januar forderte die Staatsanwaltschaft vor dem Verfassungsgericht ein Verbot der Partei, und deren Funktionär:innen gehen davon aus, dass ein solches noch vor den Wahlen in Kraft tritt. Bereits im Dezember wurde sie von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen.

Sechzig Prozent Inflation

Erdoğan steht innenpolitisch enorm unter Druck, insbesondere wegen der hohen Inflationsrate von derzeit rund sechzig Prozent. Seine Umfragewerte sinken. Anfang Dezember kündigte der Präsident bei einer Rede im nordtürkischen Samsun an, nach einer dritten Amtszeit nicht noch einmal kandidieren zu wollen. «Wir bitten zum letzten Mal um Unterstützung», appellierte der Präsident an die Wähler:innenschaft.

Seit gut zwanzig Jahren ist die AKP, die Erdoğan 2001 selbst gegründet hat, an der Macht. 2003 wurde er zum Ministerpräsidenten gewählt, seit 2014 ist er Staatspräsident – noch nie hat jemand so lange am Stück die Politik des Landes dominiert. Im Angesicht der oppositionellen Allianz fordert er seine Gefolgschaft nun auf, die «Putschisten» bei den Wahlen in die Schranken zu weisen.