Leaks: Treibjagd auf Berset

Nr. 4 –

Wer will den Innenminister zu Fall bringen? Eine Spurensuche, die ungeheuerliche Ermittlungsmethoden offenlegt. Und von den Niederungen der Zürcher SVP bis in höchste Regierungskreise führt.

Untersuchungsrichter Peter Marti
«Hinter der Weitergabe der veröffentlichten Protokolle steht ein Gameplan»: ­Untersuchungsrichter Peter Marti. Foto: Dominique Meienberg

Der Mann ist ein intimer Kenner der SVP, einer aus der parteinahen Presse. «Berset ist die grösste Trophäe!», meint er im Lärm des Zürcher Schützenhauses Albisgüetli. Man dürfe nicht vergessen, dass Alain Berset als junger Ständerat zu den Drahtzieher:innen der Abwahl von Parteichef Christoph Blocher aus dem Bundesrat gehört habe. Was wäre es da für ein Erfolg für die SVP, wenn Berset, mittlerweile Bundespräsident, selbst gehen müsste. Der Parteikenner betont es nochmals: «Berset ist die grösste Trophäe! Und das zu Beginn eines Wahljahrs!»

Knapp eine Woche ist es an diesem Freitagabend her, dass CH Media die Befragungsprotokolle von Bersets früherem Kommunikationschef Peter Lauener publik machte, die Indiskretionen zwischen dem Gesundheitsdepartement und Marc Walder, dem CEO des Boulevardkonzerns Ringier, belegen. Auch hier an der Albisgüetli-Tagung der SVP, zwischen Grenadiermusik, Zürcher Geschnetzeltem und Tombola, sind die Enthüllungen das Gesprächsthema.

Einzigartige Dimension

An Tisch Nummer drei in der Mitte sitzt die Parteielite, das Ehepaar Blocher, Parteifinancier Walter Frey und auch «Weltwoche»-Autor Christoph Mörgeli. Darauf angesprochen, ob es ihn nicht ärgere, dass CH Media den Primeur hatte und nicht die «Weltwoche» – so wie das bei den letzten Aufregern über Berset wegen seiner Geliebten oder seines Privatflugs nach Frankreich der Fall war –, gibt sich Mörgeli generös. Die «Weltwoche» verfügt offenbar nur noch über beschränkte Sprengkraft, ist als Absenderin erwartbar. Mörgeli hat zwar eine Vermutung, wer die Protokolle CH Media gesteckt hat. Aber die will er dann doch lieber nicht preisgeben.

Es ist die Zeit der Gespräche im Off. Seit ein Leak bei der einen Mediengruppe die Leaks zugunsten des CEO eines anderen Medienhauses offenlegte, seit ein zweiter und sogar ein dritter Sonderstaatsanwalt den ersten jagen, will kaum mehr jemand mit Namen zu seinen Informationen oder Einschätzungen stehen. Die WOZ sprach mit Dutzenden Beteiligten und Expert:innen aus Politik, Justiz und Medien. Der Tenor der Rückmeldungen, bis ins bürgerliche Lager: grosse Besorgnis. Die Ringier-Bevorzugung sei bedenklich, müsse aufgearbeitet werden. Doch die Kampagne gegen Berset werfe noch gravierendere Fragen auf. Dass vertrauliche Ermittlungsakten aus einem Strafverfahren entwendet würden, um einen Bundesrat mit einer Medienkampagne zu diskreditieren, habe eine für die Schweizer Politik einzigartige Dimension.

Auch Untersuchungsrichter Peter Marti, aus dessen Verfahren die bei CH Media veröffentlichten Protokolle stammen, will derzeit kaum etwas sagen. Mit einem Satz lässt er sich dann doch zitieren: «Hinter der Weitergabe steht ein Gameplan.» Jemand spielt ein schmutziges Spiel – gegen Berset.

Die Mailschwemme

Doch was ist Martis eigene Rolle darin? Der Richter war schon im Ruhestand, als sie ihn riefen, um im Frühjahr 2020 aufzuklären, wie ein geheimer Untersuchungsbericht zur Crypto-Affäre erst zur NZZ und dann zum «Tages-Anzeiger» gelangen konnte. Weil der Verdacht auch auf der Bundesanwaltschaft lag, berief der Zuger Grün-Alternative Hanspeter Uster, damaliger Präsident der zuständigen Aufsichtsbehörde, Peter Marti zum Sonderermittler. Als junger Untersuchungsrichter hatte dieser mit Furor gegen junge Linke ermittelt. Als späterer Oberrichter für die SVP galt er als gewissenhaft.

Welcher Marti würde nun das Leak untersuchen, der getriebene Staatsanwalt oder der gesetzte Richter? Marti wurde wieder zum Spürhund, witterte an allen Ecken und Enden etwas. Rasch stiess er über das Gebiet hinaus, für das er mandatiert war. Zu seiner Untersuchungstaktik will sich Marti nicht äussern, doch sie wirft viele rechtliche Fragen auf. Der WOZ liegen Informationen vor, die auf einen Skandal hindeuten: Marti soll vom Bundesamt für Information und Telekommunikation (BIT) und von der Swisscom viel mehr Daten erhalten und ausgewertet haben, als ihm erlaubt war. Doch der Reihe nach.

Die Bundesanwaltschaft, so stellt sich bald heraus, hat nur einen Bruchteil des Crypto-Untersuchungsberichts erhalten, der später NZZ und «Tagi» zugespielt wurde. Sie fällt damit als Quelle des Lecks weg. Damit wäre Martis Mandat auch schon beendet. Doch er ermittelt weiter. Wieso? Je weniger er vorweisen kann, desto energischer geht er vor. Er bestellt die Journalisten zur Befragung ein, die an den Veröffentlichungen beteiligt waren. Alleine führt Marti oft stundenlange Verhöre, die vor allem deshalb so lange dauern, weil er eigenhändig Protokoll führt. Brauchbare Antworten erhält Marti keine. Warum macht er weiter?

Im Sommer 2021 beantragt Marti im Justizdepartement (EJPD) die Erweiterung seiner Untersuchung auf Peter Lauener, den damaligen Kommunikationschef von Alain Berset. Wie er auf Lauener kommt? Wieder eine ungeklärte Frage. Martis Vermutung: Weil «Tages-Anzeiger»-Journalist:innen ein positives Coronabuch über Berset und das Innendepartement publizierten, habe Lauener den Crypto-Untersuchungsbericht, der damals beim Bundesrat zirkulierte, als kleines Präsent weitergegeben. Eine abenteuerliche, geradezu irrwitzige These. Doch das EJPD, damals geführt von Karin Keller-Sutter (FDP), bewilligt die Erweiterung des Verfahrens. Warum?

Anschliessend will Marti Peter Laueners E-Mails auswerten. Und dabei wird aus Crypto-Leaks plötzlich Corona-Leaks. Er fordert bei zwei Stellen Laueners Mailverkehr an, einmal beim BIT, über das Laueners geschäftlicher Mailaccount läuft, und dann bei der Swisscom, wo er ein privates Konto hat. Marti verlangt sämtliche Mails über eine Zeitspanne von einigen Wochen rund um die Crypto-Enthüllung. Von der Swisscom und dem BIT soll er aber den Mailverkehr von mehreren Jahren erhalten haben.

Mehrere Jahre – statt weniger Wochen!

Marti habe die Mails zur Ringier-Verbindung als Beifang erhalten, stand in zahlreichen Medien. Er habe also neben der Forelle plötzlich noch einen Hecht im Netz gefunden. Es verhält sich anders: Martis Netz war plötzlich so gross, dass es ihm einen ganzen Fischschwarm in sein Ermittlungsbüro spülte.

In der Sackgasse

Wie es dazu kommen konnte, ist eine offene Frage. Das BIT, das dem Finanzdepartement von damals noch Ueli Maurer (SVP) untersteht, will sich mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht äussern. Die Swisscom schreibt, sie sei gemäss Strafprozessordnung zur Weitergabe des gesamten E-Mail-Kontos verpflichtet gewesen. Marti nimmt die Daten jedenfalls gerne entgegen, obwohl offensichtlich ist, dass er für die Crypto-Klärung längst nicht auf alle Anspruch hat, und wertet sie aus. In jedem Fall müsste Marti Lauener über die beschlagnahmten Daten orientieren, damit dieser die Siegelung verlangen könnte. Doch Marti informiert Lauener nicht über seinen Fund. Ein klarer Rechtsbruch?

Marti spricht dafür bei der Aufsicht der Bundesanwaltschaft vor, um sein Verfahren auf die Coronamails auszuweiten. Diese hat eine neue Präsidentin, SVP-Richterin Alexia Heine, und im Zirkularbeschluss stimmt die Aufsichtsbehörde ihrem Antrag auf Ausweitung zu. Obwohl sich der Anfangsverdacht nicht erhärtete, die Mails mutmasslich nicht verwendet werden dürften und Crypto nichts mit Corona zu tun hat – Marti darf weitermachen. Und lässt als Nächstes Lauener festnehmen.

Vier Tage sitzt er in Haft, dann muss Marti ihn freilassen. Das Zwangsmassnahmengericht lehnt die von ihm geforderte Untersuchungshaft ab. Das passiert eher selten, doch der Rückschlag hält Marti nicht auf. In den Befragungen konfrontiert er ihn dann mit dem Mailaustausch mit Ringier-CEO Marc Walder. Jetzt erst merkt Lauener, um was es eigentlich geht, und verlangt die Siegelung seiner E-Mails. Später reicht er Strafanzeige ein. Auf Antrag der Bundesanwaltschaft setzt die Aufsichtsbehörde daraufhin einen neuen Sonderermittler ein, der gegen Marti vorgeht. Dieser erhält vom EJPD die Ermächtigung zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Peter Marti wegen diverser Delikte.

Spätestens jetzt muss ihm klar sein, dass er nicht nur der Jäger ist, sondern auch der Gejagte. Der Druck auf Marti ist immens. Endet seine Karriere mit einem komplett verpfuschten Verfahren? Und ist das schon ein Motiv für die Weitergabe von Untersuchungsakten?

Seine eigene Ermittlung ist jedenfalls an einem toten Punkt angelangt, als bei Patrik Müller, Chefredaktor von CH Media, Befragungsprotokolle aus dem Strafverfahren gegen Peter Lauener auf dem Tisch landen. Müller, der in allen seinen Texten gegen Berset zielt, will nicht offenlegen, ob er weiss, auf welchem Weg die Dokumente zu ihm gekommen sind, wer dahintersteckt und was das Motiv ist. Innerhalb der Redaktion haben nur er und Medienredaktor Francesco Benini Zugang zu den Files. Müller hütet die Dokumente wie ein Staatsgeheimnis, dabei scheinen sie schon ausgeschöpft: Die Brisanz der Veröffentlichungen nimmt stetig ab. Nie thematisiert haben Müller und CH Media, wer Zugang zu den Ermittlungsakten hat und ein Interesse daran haben könnte, Berset zu schaden.

Getrieben oder geschoben?

Marti bestreitet dezidiert, die Akten veröffentlicht zu haben. Es wäre für einen ehemaligen Oberrichter, der mit aller Hartnäckigkeit ein Leak untersucht, in der Tat ein irritierendes Manöver. Die Frage bleibt: Warum führt er sein Verfahren so treffsicher in Richtung Lauener, Ringier und Corona? Ein Motiv, das sagen verschiedene Auskunftspersonen, könnte darin bestanden haben, dass Marti eine Art Coronaverschwörung witterte. Er habe bei den Verhören auch aus dem Schwurblerportal «Die Ostschweiz» zitiert.

Offen ist auch, ob Marti Getriebener war oder Geschobener, ob er also für seine Ermittlungen Anstösse von aussen erhalten hat. Schliesslich ist er Teil eines Zürcher SVP-Bekanntenkreises, zu dem Alexia Heine gehört, die Präsidentin der Aufsichtsbehörde der Bundesanwaltschaft, ebenso wie Nationalrat Alfred Heer, Mitglied der Geschäftsprüfungskommission.

Alfred Heer sitzt an der Albisgüetli-Tagung nicht an Tisch drei in der Mitte, sondern an einem daneben. Er kommt für ein Gespräch vor den Eingang, scheint etwas angespannt. Es sei ihm eine grosse Ehre, dass er über so viel Einfluss verfügen könnte, den Lauf der Untersuchung zu beeinflussen, meint er zur Begrüssung. «Aber ich wäre doch nicht so intelligent, zuerst eine Strafanzeige bei der Crypto anzustrengen, um vorauszusehen, dass diese nachher bei Corona landet.» All die persönlichen Verbindungen zwischen den SVPlern im Verfahren gebe es zwar. Mit Marti habe er seit der gemeinsamen Zeit im Kantonsrat vor 25 Jahren aber erst wieder Kontakt gehabt, als er selbst als Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) wegen der Crypto-Leaks zur Anhörung musste. Mit Heine habe er nie über das Verfahren gesprochen ausser im Rahmen offizieller Anhörungen.

Heer gibt sich unbeteiligt, bis die Sprache auf Berset kommt. «Die Systematik des Austauschs mit Walder finde ich schlimm. Und dann lässt er sich nachher als Held abfeiern in diesen Ringier-Heftli.» Heer fängt sich wieder. Und wer hat dann seiner Meinung nach die Akten herausgegeben? Für Marti würde er die Hand ins Feuer legen: Ein «Überkorrekter» sei der, «staubtrocken». Er wisse zudem nicht, wer überhaupt Zugang zu den Akten bekommen habe.

Klar ist, dass die drei anfänglich wegen des Crypto-Leaks Beschuldigten über sie verfügen können: neben Lauener auch der Generalsekretär des Aussendepartementes (EDA), Markus Seiler, und ein EDA-Pressesprecher. Diese beiden wurden zwar nur wegen Crypto befragt, doch weil Marti die Verfahren zusammenlegte und offenbar mit den Unterlagen freigiebig ist, haben sie auch Zugriff auf die Coronabefragungsprotokolle. Seiler hat der WOZ bereits letzte Woche bestätigt, dass er über sie verfügt. Doch Seiler wie der EDA-Sprecher dementieren, die Akten selbst herausgegeben zu haben. Allerdings könnte das auch ein Anwalt für Seiler übernommen haben, und es wäre nicht einmal ein Verstoss gegen das Amtsgeheimnis. Beschuldigte dürfen über die Akten verfügen.

Seiler leitete früher den Schweizer Geheimdienst NDB. Von der «NZZ am Sonntag» wurde er einst als «Mann im Schatten» beschrieben, der in seiner Karriere immer dann «die Kontrolle über seine Rolle verliert, wenn die Scheinwerfer zu hell leuchten». Seiler stand wiederholt im Verdacht, Urheber der Leaks gegen Berset zu sein. Tatsächlich gibt es zeitliche Parallelen: Wann immer Seiler unter Druck geriet, gab es ein Leak zu Berset. «Die Luft wird dünn für Seiler», hiess es wegen des Crypto-Untersuchungsberichts am 11. November 2020 im «Tages-Anzeiger». Nur zehn Tage später sprachen alle Medien nur noch von der Erpressungsaffäre gegen Berset. Am 13. Juli 2022 vermeldete der «Tages-Anzeiger» ein «Beben in Bundesbern»: Die Crypto-Leaks-Untersuchung richte sich gegen Seiler. Doch die ganze Schweiz sprach da schon über eine Geschichte, die am Vortag abgehoben hatte. Alain Berset wurde von der französischen Luftwaffe in seinem Privatflugzeug eskortiert.

Neben den Beschuldigten gibt es auch Behörden, bei denen die Akten liegen: beim Zwangsmassnahmengericht Bern, wo ein Verfahren um die Entsieglung der Daten läuft, und bei der Kantonspolizei Zürich, mit der Marti zusammenarbeitete. Durchaus denkbar, dass ein SVP-Maulwurf sie weitergab. Schon bei der Berset-Erpressung, die Mörgeli publik machte, orteten verschiedene Personen das Leak bei der Zürcher Justiz und Polizei, die für den Fall beigezogen wurde.

Im Machtrausch

Falls die Kampagne gegen Berset in den hohen Berner Regierungssphären oder in den Zürcher SVP-Niederungen ihren Ursprung hätte, käme das einem politischen Skandal gleich. FDP-Mitglied Seiler könnte mit dem Angriff auf Berset einen Beitrag geleistet haben, den zweiten Bundesratssitz der FDP und damit auch seinen Job abzusichern. Es würde ins Bild einer Partei passen, die sich seit einiger Zeit im Machtrausch befindet. Im Verdacht steht aber auch die SVP, die zum Start des Wahljahrs endlich ihre grösste Trophäe, den verhassten «Coronageneral» Berset, erlegen kann.

Auffällig ist, wie die SVP in den letzten Tagen versucht hat, Druck zu machen. Präsident Marco Chiesa rief laut nach dem Rücktritt von Alain Berset. Die parlamentarischen Geschäftsprüfungskommissionen wollen die Coronaindiskretionen von einer kleinen Arbeitsgruppe untersuchen lassen, allerdings geht es um mögliche Leaks von allen Departementen bezüglich Corona.

Die Frage, ob es nicht mindestens so zwingend wäre, die jetzige Kampagne gegen Berset politisch zu untersuchen, hat bisher niemand in Bern offen gestellt. Der Grund, den man im Off hört, ist durchaus beunruhigend: Wir wollen nicht selbst plattgewalzt werden.