LeserInnenbriefe

Nr. 4 –

Anregende Denkfetzen

«Essay: ‹Ich plädiere für gröbsten Opportunismus: Ich fühle es, also tanze ich dazu!›», WOZ Nr. 2/2021 , und «Debatte: Hey Dude, was ist dein Problem?», WOZ Nr. 3/2021

Ich bin sehr erleichtert über die Antwort von Simone Meier auf Tommy Vercetti. So viele anregende Denkfetzen aus so vielen Registern gezogen, so viel ermutigendes Bewusstsein für die eigenen Widersprüche. Vercettis Text schrammt dagegen ganz knapp am «Weltwoche»-Diskurshammer über die Hegemonie der linken politischen Korrektheit in Kunst und Wissenschaft vorbei.

Vercetti vereinfacht, ja. Ist das das Problem? Nein. Nichts gegen grobe Vereinfachung, wenn sie das Feld für Differenzierungen grundsätzlich gut vorstrukturiert. Was mir auffällt an seiner klaren Denkmatrix, ist vielmehr der blinde Fleck. Vercetti argumentiert, als ob es nur die Wahl zwischen cooler-und-rechter und uncooler-und-linker Kunst gäbe, und kommt zum grandiosen Schluss: Hey, wir brauchen coole-und-linke Kunst. Wow, Mann, als ob es das nicht schon gäbe! Aber vor allem argumentiert er, als ob es keine uncoole-und-rechte Kunst gäbe. Die Banalität des Bösen-Schönen: Diese Schublade geht bei ihm gar nicht auf. Das, finde ich, ist ein grosses Problem.

Paola De Martin Altorfer, per E-Mail

Bitte etwas feinfühliger

«Auf allen Kanälen: Fatale Schizophrenie», WOZ Nr. 2/2021

Immer wieder fällt mir die Verwendung des Begriffs «Schizophrenie» im Journalismus im Zusammenhang mit Thematiken auf, die mit diesem psychiatrischen Störungsbild nicht das Geringste zu tun haben. Ich nehme daher die Titelgebung für Ihren Artikel über Förderprogramme von Google im Bereich Journalismus zum Anlass für diesen Leserinnenbrief.

Nicht nur wird hier ein psychiatrischer Begriff verwendet, der mit dem Inhalt des darauf folgenden Artikels nicht das Geringste zu tun hat, er wird zudem auch noch falsch definiert. Kurz zusammengefasst wird in der aktuellen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) Schizophrenie als «grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte» definiert. Inwiefern hat dies mit dem Widerspruch der Nutzung von Förderprogrammen von Google im Bereich Journalismus zu tun? Es geht um Widersprüche? Wieso werden Widersprüche mit Schizophrenie gleichgesetzt?

Ich würde mir von JournalistInnen wünschen, mit der Verwendung psychiatrischer Begriffe (insbesondere dem Begriff «Schizophrenie», der immer wieder für solche Verfälschungen herhalten muss) etwas feinfühliger umzugehen. Einerseits erweckt dies falsche Vorstellungen in Bezug auf psychiatrische Störungsbilder, andererseits empfinde ich es als unsensibel gegenüber Menschen, die unter solchen Störungsbildern leiden und durch sie in ihrem Alltag erheblich eingeschränkt sind. Und sollte dennoch der Wunsch bestehen, einen solchen Begriff zu verwenden, dann doch bitte so, dass dieser dabei der korrekten Definition entspricht.

Anna Bokel, per E-Mail

Bislang habe ich die unverzeihliche unsachgemässe Verwendung des Krankheitsbegriffs «Schizophrenie» nur in bürgerlich geprägten Medien lesen müssen und ging davon aus, dass diese es halt nicht besser verstehen.

Jetzt muss ich feststellen, dass auch ein linker Journalist ebenso unbedarft sein kann. Deshalb möchte ich auch diesen belehren, dass Schizophrenie eine schwere psychische Erkrankung ist. Davon Betroffene, deren Angehörige und ihr soziales Umfeld müssen derentwegen viel Unbill über sich ergehen lassen, weil diese Krankheit sehr stigmatisierend und ausgrenzend wirkt. Mit der unsachgemässen Verwendung dieses Krankheitsbegriffs sind sie gleich nochmals stigmatisiert.

Bruno Facci, per E-Mail

Selig sterben – der Tod als Tabu

«Gesundheitswahn: Lasst uns wieder selig sterben», WOZ Nr. 23/2007

Beim Recherchieren über den Gesundheitsbegriff bin ich über den Artikel von Manfred Lütz gestolpert, erschienen in der WOZ im Jahr 2007. In unserer Zeit, in der Gesundheit beziehungsweise Krankheit zum alles überschattenden Thema geworden ist, liest sich der Text wie eine Mahnung und gleichzeitig wie Blasphemie. Das ist genau der Punkt, den Lütz im Artikel macht, dass nämlich die Gesundheit sich nicht nur zum «höchsten Gut», sondern mehr noch zur Religion gemausert hat und alles, was dieser Ansicht widerspricht, blosse Gotteslästerung sein kann.

Lütz zitiert Kierkegaard so: «Der Spass, eines Menschen Leben für einige Jahre zu retten, ist nur Spass, der Ernst ist: selig sterben.» Nehmen euch diese Worte auch den Atem? Treiben wir tatsächlich nur Spass in unserem Bemühen, die «Risikopatienten» vor dem Tod zu schützen? Ob Lütz es immer noch so sieht, weiss ich nicht, aber 2007 schrieb er: «Um den Tod zu vermeiden, nehmen sie (die Gesundheitsfanatiker) sich das Leben, nämlich unwiederholbare Lebenszeit.» Während jeder Tod schlimm ist, so haben wir als Gesellschaft doch vergessen, wie wir damit umgehen sollen. Dies hat auch Isabelle Noth kurz vor Weihnachten in der WOZ dargelegt.

Gibt es wirklich nur technologische Mittel wie Tests und Impfung, um mit der Krise umzugehen? Ich wünsche mir, dass sich das Gespräch wieder öffnet für verschiedene Sichtweisen, auch solche, die zu schocken vermögen, wie Lütz das bei mir geschafft hat, obwohl ich zum grössten Teil mit ihm einverstanden bin. Es scheint mir doch sehr einförmig zu- und herzugehen. Wo bleibt unser Mut?

Nina Sobhani, per E-Mail

Gegen menschliche Ausbeutung

Seit Jahren bin ich WOZ-Leserin und schätze Ihre gut recherchierten und kritischen Beiträge sehr. So haben Sie mir schon einige Male die Augen geöffnet. Allerdings muss ich in einem Punkt widersprechen: in jenem Ihrer Haltung gegenüber Prostitution, oder wie Sie das jeweils nennen: «Sexkauf». Sie müssten sich differenzierter mit der Haltung von «Emma» / Alice Schwarzer wie auch mit den Argumenten für das schwedische Modell auseinandersetzen, es geht eben nicht darum, «gegen» die Prostituierten (oder wie Sie jeweils zu schreiben pflegen: «Sexarbeiterinnen») zu sein, sondern schlicht und einfach gegen menschliche Ausbeutung. Sklaverei und Organhandel sind auch verboten; inwiefern unterscheiden sich diese genau von der Prostitution?

Es wäre aufschlussreich, wenn Sie in Ihren Artikeln einmal Statistiken bringen würden zur Herkunft und Gesundheit von Prostituierten sowie zu deren Beweggründen – und zwar Statistiken und Aussagen von ALLEN Frauen in der Schweiz, die sich prostituieren, und nicht nur von sogenannten «Edelprostituierten», deren Freier so aussehen wie Richard Gere. In all Ihren anderen Beiträgen sind Sie es gewohnt, mit Zahlen und Statistiken zu argumentieren, wieso nun nicht auch bei diesem Thema?

Zudem wäre es interessant, wenn Sie mal die Freier thematisieren würden. Was sind das für Männer, die für eine so wundervolle Sache ihr Portemonnaie öffnen müssen? Welche Machtgefühle werden so geweckt? Ist Geld für Sex nicht gleich Konsum – sprich Kapitalismus par excellence?

Lilian Carpenter, per E-Mail