Verfolgte Kunst: Wie Gurlitt nach Bern fand

Nr. 13 –

Dass das Erbe von Cornelius Gurlitt an das Kunstmuseum Bern ging, war die Folge einer langen Geschäftsbeziehung. Das zeigen drei Berner KulturjournalistInnen in ihrem Buch «Der Gurlitt-Komplex».

Sechzig Jahre danach schien für Cornelius Gurlitt der Zweite Weltkrieg noch immer anzudauern. Er befürchtete, dass ihm ein Netzwerk von Nazischergen seine Bildersammlung stehlen wolle, und er war überzeugt, dass sein Vater gegen das NS-Regime gekämpft und den JüdInnen geholfen hatte. Als er 2014 seine Sammlung an das Kunstmuseum Bern vererbte, tat er dies mit der Absicht, die Bilder ausser Landes zu schaffen und den angeschlagenen Ruf seiner Familie wiederherzustellen. Wenig später verstarb Gurlitt, der zurückgezogen in München und Salzburg gelebt hatte. Die Gerichte kamen rückblickend zum Urteil, dass er testierfähig war.

Die Vorstellung, dass der Zweite Weltkrieg fortdauert, stimmt im Kunsthandel durchaus. Die Nazis hatten JüdInnen vor der Flucht Gemälde abgepresst und in den besetzten Gebieten Kunstwerke geraubt. Als Teil ihrer Propaganda hatten sie «entartete Kunst» aus den Museen geräumt. Hildebrand Gurlitt, der Vater von Cornelius, war einer von vier Händlern, der diese Kunst ins Ausland verkaufen durfte und sich dabei eine eigene Kunstsammlung aufbaute. Nach dem Krieg ging der Handel mit NS-verfolgter Kunst weiter, erste Rückgabeforderungen tauchten auf. Die Schweiz blieb als Drehscheibe im Geschäft.

In «Der Gurlitt-Komplex» erzählen Oliver Meier, Michael Feller und Stefanie Christ die Familiengeschichte der Gurlitts und zeichnen den Rechtsstreit um ihr Erbe nach. Meier und Feller sind Historiker, Christ ist Kunsthistorikerin, alle drei arbeiteten die letzten Jahre als KulturjournalistInnen bei der «Berner Zeitung». Der örtliche Bezug bildet den Ausgangspunkt für ihre Recherchen. Sie beschreiben, wie die Stadt Bern dank der Galerie August Klipsteins ab den dreissiger Jahren zu einem Handelsplatz für moderne Grafik wurde. Das Verdienst des Buchs liegt darin, nicht nur den Kunsthandel vor und während des Zweiten Weltkriegs zu thematisieren, sondern auch seine Fortsetzung.

Wettstreit um Kirchner

Zwei Galerien waren dabei besonders wichtig: diejenige von Eberhard W. Kornfeld in Bern, der das Geschäft von Klipstein übernahm, und jene von Roman Norbert Ketterer, domiziliert in Stuttgart und später in der Steueroase Campione d’Italia bei Lugano. Die beiden Galeristen hätten unterschiedlicher nicht sein können: hier der distinguierte, verschwiegene Kornfeld, dort der schillernde Ketterer, der seine Auktionen zu Shows machte. Doch einte beide das Interesse am selben Künstler, an Ernst Ludwig Kirchner. Kornfeld richtete seine erste Ausstellung mit Grafiken des Expressionisten aus, Ketterer baute ihm später das Museum in Davos.

Über 600 von Kirchners Werken waren von den Nazis als «entartet» aus deutschen Museen entfernt worden. Nach dem Krieg war die Wertschätzung der verfemten Kunst umso grösser. Obwohl er selbst zunächst mit der Kunstpolitik der Nazis sympathisiert hatte, wurde Kirchner zum Symbol dieser Neubewertung. Der zunehmenden Nachfrage nach seinen Bildern stand ein knappes Angebot gegenüber, was sich in steigenden Preisen ausdrückte. Kornfeld und Ketterer bemühten sich um Nachschub, unter anderem bei Cornelius Gurlitt. Gurlitts Sammlung, die das Magazin «Focus» 2013 als «Nazischatz» enthüllte, sei in «einschlägigen Kreisen» immer bekannt gewesen, räumt Kornfeld im Buch ein. Beim Verkauf einzelner Werke war Kornfeld erfolgreicher als Ketterer: Er liess sich geduldig auf Gurlitts eigenbrötlerische Art ein, während sein Konkurrent ungestüm mit Steuervorteilen warb. Dreissig Kunstwerke lieferte Gurlitt an Kornfeld, darunter mehrere Werke von Kirchner. Bei Auktionen in den siebziger und achtziger Jahren wurden sie für insgesamt 1,3 Millionen Franken verkauft.

«Unkultur der Selbstgerechtigkeit»

Der damalige Kunsthandelsbetrieb habe «relativ sorglos» agiert, was die Herkunft der einzelnen Bilder betraf, konstatieren die AutorInnen. Auch die Behörden trugen nach dem Krieg mit einer unzulänglichen Gesetzgebung betreffend Raubkunst zu dieser «Unkultur der Selbstgerechtigkeit» bei. Dass diese fortdauert, belegt Kirchners Bild «Dünen und Meer»: Das Kunstmuseum Bern hat es im Jahr 2000 bei Kornfeld ersteigert, heute gilt seine Herkunft beim Museum als «aufklärungsbedürftig».

Die Erbschaft Gurlitt hat beim Museum zu einem kritischeren Bewusstsein geführt, das längst noch nicht alle Institutionen in der Schweiz erreicht hat. Der Berner Vorschlag eines nationalen Zentrums für Provenienzforschung fand bisher keine Unterstützung. Das Buch «Der Gurlitt-Komplex» selbst hebt die Geschichtsaufarbeitung der NS-Kunst in der Schweiz auf ein neues Niveau. Auch wenn es einige Wiederholungen aufweist, überzeugt es mit akribischen Recherchen und einem distanziert-kritischen Ton gegenüber Kunsthändlern, Restitutionsanwältinnen wie auch den Museen.

Die AutorInnen sind nicht bloss neugierig aufs Geschäft, sondern auch auf die Geschichte. So taucht hinter dem Phantom Cornelius Gurlitt seine Tante Cornelia Gurlitt auf, eine «talentierte Malerin aus der Männerdomäne des Expressionismus». Sie ging im Ersten Weltkrieg ins Baltikum an die Front, wo sie nachts Verwundete pflegte und tagsüber die Szenen aus dem Lazarett in Bildern verarbeitete. Nach der Rückkehr nahm sich Cornelia Gurlitt das Leben. Ihre Bilder aus dem Krieg sind das Kernstück der geheimnisumwitterten Sammlung Gurlitt.

Oliver Meier, Michael Feller und Stefanie Christ: Der Gurlitt-Komplex. Chronos Verlag. Zürich 2017. 375 Seiten. 34 Franken