Sechseläuten: Fast alles beim Alten

Heute Morgen stimmte noch, was ich vor zwei Jahren auf Twitter (damals gabs das noch) schrieb: «Gibt es etwas Schöneres, als sich in der trockenen Stube vorzustellen, wie ein paar reaktionäre alte und junge Knacker verkleidet, geschminkt und angetrunken im Starkregen um eine brennende Strohpuppe galoppieren?» Aber heute Nachmittag scheint leider die Sonne. Doch der Rest gilt immer noch, genau wie für die letzten hundert Jahre.

Nein, ein paar Kleinigkeiten haben sich geändert: Mann schminkt sich nicht mehr oder – falls doch – zumindest nicht mehr, um sich als hablicher weisser Zürcher anderen Ethnien nah fühlen zu können. Oder etwa doch?

Die Nachricht von Mitte März, die Zürcher Zünfte führten eine Art Anti-Diskriminierungs-Kodex ein, hat sich nämlich schon wieder erledigt. Vor zwei Tagen gab der oberste Zunftmeister bekannt, es gebe keinen Leitfaden mit Verhaltensregeln, man lege «seit eh und je Wert auf rücksichtsvolles und zuvorkommendes Verhalten» und erachte «es als selbstverständlich, dass die Gesetze und die Regeln des Anstandes von allen Beteiligten geachtet werden».

An das Foto, auf dem der braun bemalte Roger Köppel in der «Zunft zum Kämbel» den fröhlichen «Beduinen» mit Kamel gab, dürften sich noch einige erinnern. In diesem Jahr überlässt es die Kämbel-Zunft ihren Mitgliedern, ob sie sich braun anmalen wollen oder nicht. Ist ja schliesslich auch kein Black-, sondern bloss Brownfacing.

Doch zurück zum Anlass als solchem: «Das Sechseläuten ist eine jahrhundertealte Tradition zum Frühlingsbeginn in Zürich», heisst es auf zuerich.com. In der NZZ erklärte ein Historiker das Zürcher Frühlingsfest hingegen kürzlich zum «Reenactment einer Vergangenheit, die es auf diese Weise nie gegeben hat», und von Jahrhunderten kann schon gar keine Rede sein. Der «Böögg», die Strohpuppe, die da symbolhaft für den Winter verbrannt wird, wurde 1892 erfunden, und in den Zünften sitzen heute nicht Handwerksmeister, sondern der sogenannt bürgerliche Zürcher Geldadel, der sich mit der Anwesenheit von Frauen ausgesprochen schwer tut.

Obwohl es in der echten Welt einst Zünfterinnen gab, durften sie seit den 1950er Jahren nicht mehr mitlaufen. Jetzt lassen drei Zünfte erstmals «Zünfterstöchter» zu. Frauen liebt der Zünfter seit jeher vor allem als «Ehrendamen», die ihm knicksend Blumen reichen.

Bis 2016 bewarf man das staunende Volk mit toten Fischen. Mit dieser Tradition brach man nicht etwa wegen des Tierwohls, sondern weil die Fischer ihre Fische lieber noch verkaufen wollten.

Der «Blick» verriet übrigens, wie man dem Klima heute ein Schnippchen schlagen will: «Dank Holz-Trick – Flammen sollen den Böögg diesmal schneller erreichen», was dem Brauch folgend bedeuten würde, dass der Sommer möglichst lang und heiss wird. Aber das können sich in unsern Tagen wirklich nur noch die allergrössten Dummköpfe wünschen.

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Kommentare

Kommentar von forumtheater

Mo., 15.04.2024 - 19:31

Kleiner Nachtrag von kho: Nun ist doch nicht alles beim Alten geblieben. Erstmals konnte der Böögg wegen starker Winde nicht angezündet werden. Anscheinend hat der Böögg grad selber gemerkt, dass dem Klimawandel nur Einhalt geboten werden kann, wenn er den Kopf gleich ganz oben behält. Auf einen kühlen Sommer! 🥂