Israel / Palästina: Kaum Hoffnung auf Frieden

Nr. 6 –

Die Amerikaner:innen und die Europäer:innen ringen um einen Waffenstillstand und einen Friedensplan im Nahostkonflikt. Doch die Gräben zwischen Israelis und Palästinenser:innen sind tiefer denn je.

zerstörtes Haus im Kibbuz Nir Oz
«Es war wie das Armageddon»: Beim Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 zerstörtes Haus im Kibbuz Nir Oz. Foto: Scott Peterson, Getty

Jeans, schwarzes T-Shirt, die Arme vor dem Körper verschränkt, steht Benny Avital da, immer wieder holt er tief Luft, blickt auf den Boden und ringt um Fassung, bevor er weiterreden kann. Seinem Freund Eran Smilansky geht es nicht besser. «Tut mir leid», sagt Avital. «Ich bin etwas aufgewühlt.» Es ist das erste Mal seit dem 7. Oktober, dass die beiden nach Nir Oz zurückgekehrt sind. Die Sonne scheint an diesem milden Wintertag, manchmal hört man Vögel zwitschern.

Avital und Smilansky sind Mitglieder des zivilen Sicherheitsteams von Nir Oz. Als Hamas-Kämpfer in den frühen Morgenstunden jenes «schwarzen Schabbats» oder «schwarzen Samstags», wie viele Israelis den 7. Oktober nennen, den Kibbuz überfielen, verschanzten sie sich wie alle Bewohner:innen in ihren Schutzräumen, konnten nicht glauben, was sie um sich herum sahen und hörten. Raketenlärm donnerte über den kleinen Kibbuz mit seinen grünen Rasen und von Palmen und Pinien gesäumten Wegen, Schüsse fielen.

Aus allen Richtungen seien die Terroristen in den Kibbuz gestürmt. «Soldaten, Kommandanten, Zivilisten mit Waffen, Kids», sagt Smilansky. «Ziemlich schnell drangen sie in mein Haus ein.» Knapp zwei Stunden lang hörte der schlaksige 29-Jährige, wie die Einbrecher Schränke aufbrachen, Musik hörten und lachten. «Als sie fertig waren und geklaut hatten, was sie wollten, wurde es schlagartig still. Jetzt erst kamen zwei bewaffnete Terroristen in meinen Schutzraum, den ich nicht absperren konnte.» Smilansky hatte sich im Schrank versteckt. «Ich überraschte sie.» Er sprang aus dem Schrank, schoss auf sie und verletzte sie. Draussen versteckte er sich hinter einem Baum und schoss auf sechs weitere Hamas-Kämpfer.

Am frühen Nachmittag verzogen sich die Extremisten. Eine bleierne Stille machte sich breit. «Plötzlich war es ganz still. Kein Hundegebell, kein Vogelgezwitscher, nichts. Es war wie das Armageddon», sagt Avital. Um sie herum standen viele der kleinen Bungalowhäuser in Flammen. Die beiden Freunde wickelten sich nasse Handtücher ums Gesicht und rannten in die brennenden Gebäude, bargen Leichen und Verletzte, leisteten erste Hilfe, riefen Ambulanzen. «Wir versuchten, so viele wie möglich zu retten, zu klären, wie viele tot und vermisst sind, dachten und fühlten nichts», sagt der 44-Jährige. «Wir funktionierten einfach nur.»

Zweifeln in Ramallah

Gut 150 Kilometer von Nir Oz entfernt, im palästinensischen Ramallah, behauptet Abdulrahman Kassem: «Die Hamas hat keine Massaker verübt.» Aber die Organisation hat die Videos von den Verbrechen zur Tatzeit doch selbst in den sozialen Medien verbreitet? Er sei kein Freund der Hamas, aber dass sie Kinder und Frauen umgebracht hätten, sei eine Lüge. «Zeig mir die Beweise! Zeig mir die Beweise!», zischt der 28-jährige Autohändler. «Israel verübt Massaker. Schau dir die getöteten Kinder in Gaza an.» So sieht es auch Ghadir Saleh. Die Palästinenserin, die allein in einem Apartment lebt und ihr langes Haar offen trägt, ist alles, nur keine Islamistin. «Das Problem ist nicht die Hamas. Das Problem ist die israelische Besetzung. Wir haben keine Freiheit, keinen Staat. Siedler nehmen uns das Land weg», sagt die 26-Jährige, die in Deutschland internationale Politik studiert hat. «Wenn der Druck immer grösser und grösser wird, explodiert es irgendwann. Das ist am 7. Oktober passiert.»

Waren die Gräben in dem jahrzehntelangen Konflikt schon vorher schier unüberbrückbar, sind sie es jetzt erst recht. Auf beiden Seiten haben der Hamas-Überfall und die Vergeltungsschläge der israelischen Armee alte Traumata reaktiviert. Für die Jüd:innen waren die Massaker die schlimmsten seit dem Holocaust. Für die Palästinenser:innen die Bombardements und Vertreibungen die schlimmsten seit der Nakba, der «Katastrophe» von 1948. In israelischen Medien sieht man die Opfer, die Tunnel, die Armee und Soldaten auf Panzern. Die Palästinenser:innen sehen in ihren Medien die Toten und Verletzten, die aus Trümmern geborgen werden.

Desillusionierung im linken Kibbuz

Ein Rundgang in Nir Oz offenbart das Grauen, das sich in diesem kleinen Ort mit rund 400 Einwohner:innen in jenen Stunden abgespielt hat. Wie schwarze Bänder hängen verbogene Metallrohre und Plastikverschalungen von den Decken völlig ausgebrannter Häuser. In einem kleben die Reste eines Klaviers an der Wand eines von Russ geschwärzten Raums. Jemand hat einen intakten Holzstuhl davorgestellt. In einem anderen ist ein Bett mit Blut getränkt. In vielen ziehen sich Blutspuren über Böden und Wände, Möbel sind umgestürzt, Schranktüren hängen schräg in den Angeln, Matratzen, Kleider, Wäsche und Spielsachen sind wild verstreut. In einem Schutzraum sieht man Einschusslöcher in der schweren Metalltür. Die Klinke innen ist halb abgebrochen. Wie lange hat die Person wohl ausgehalten, bevor ihr die Kraft ausging?

Auch vor dem gemeinsamen Speisesaal, der am Schabbat aber geschlossen war, machten die Eindringlinge nicht halt. In Nir Oz lebte ein Teil der sozialistischen Tradition der Kibbuzim noch fort, täglich trafen sich die Bewohner:innen im Speisesaal zu Frühstück und Mittagessen. Irit Lahav kämpft mit den Tränen. Fünf Millionen Schekel, knapp 1,2 Millionen Franken, hatten die Einwohner:innen in eine neue Küche investiert. Lahav hatte die Bauarbeiten und Installationen überwacht. Jetzt ist davon nur noch ein Aschehaufen und geborstenes Metall übrig. «Lass uns rausgehen», sagt die 56-Jährige.

Auf Tischen liegen Poster mit den Bildern und Namen der Ermordeten und Entführten. Daneben steht eine brennende Kerze. Vor vielen Häusern hängen auch Plakate, eins zeigt die Familie Bibas, die mit ihren beiden kleinen Söhnen verschleppt wurde. Den Massakern der Hamas fielen 1200 Israelis und Ausländer:innen zum Opfer, mehr als 250 Personen nahmen sie als Geiseln, die meisten von ihnen Zivilist:innen. In Nir Oz töteten oder verschleppten sie rund ein Viertel der Einwohner:innen. Dem Morden fielen auch elf der neunzehn thailändischen Landarbeiter und die beiden tansanischen Agrarstudenten zum Opfer.

Während wir durch Nir Oz spazieren, donnern über uns die Kampfjets der israelischen Luftwaffe hinweg. Der Gazastreifen ist nur gut eineinhalb Kilometer entfernt. Vom Zaun aus kann man in der Ferne die Stadt Chan Yunis und die Staubwolken nach den Bombeneinschlägen sehen. Einmal müssen wir in einen Bunker rennen, weil von drüben eine Rakete in Richtung des Kibbuz abgefeuert wurde.

Wie viele in den Kibbuzim, die die Hamas überfiel, zählen sich die Einwohner:innen von Nir Oz zum linken Lager. Sie glaubten an Frieden. Lahav hat jahrelang regelmässig schwerkranke Patient:innen aus dem Gazastreifen in israelische Spitäler gefahren. Als sie mit ihrer Tochter in ihrem Schutzraum um ihr Leben bangte, sei etwas in ihr zerbrochen, sagt sie. «Wir haben so viel für sie getan. Wir dachten, sie seien gute Menschen. Es war eine grosse Illusion.»

Kein Staat mit Netanjahu

Der Krieg in Gaza hat bereits mehr als 26 000 Tote gefordert, die überwiegende Mehrheit Frauen, Kinder und Minderjährige. Ganze Stadtviertel hat die israelische Armee dem Erdboden gleichgemacht. Mehr als 85 Prozent der 2,3 Millionen Bewohner:innen des schmalen Küstenstreifens wurden vertrieben. Die wenigen noch intakten Spitäler kämpfen mit der Flut an Verletzten. Hunderttausende sind nach Angaben der Uno von Hunger bedroht. «Ich lebe noch», schreiben Bekannte in Textnachrichten. Manchmal kann es Tage dauern, bis überhaupt eine Antwort kommt, weil Israel immer wieder das Mobilfunk- und Internetnetz abschaltet.

«Das ist jetzt das vierte Mal, dass ich geflohen bin», schreibt Amdsched Tantesch. «Die Lage ist katastrophal.» Tantesch besitzt im Norden des Streifens grosse Ländereien mit Zitrus- und Erdbeerplantagen und ein gepflegtes, geräumiges Haus. Jetzt haust er mit seiner Familie in einer Hütte aus Plastikplanen und Decken in Rafah an der Grenze zu Ägypten. Stundenlang steht er für Lebensmittel Schlange, irrt umher, um einen Geldautomaten zu finden, der noch Geld ausspuckt. «Es ist furchtbar.» Lahav, die frühere Friedensaktivistin, zuckt mit den Schultern. «Ich glaube, sie übertreiben», sagt sie. «Sie sind grosse, grosse Lügner. Sie sind gut mit Propaganda, das haben wir am 7. Oktober gesehen.»

Die US-Amerikaner:innen und die Europäer:innen ringen derweil um einen Waffenstillstand und einen Friedensplan. Unisono lassen sie verlauten, nur eine Zweistaatenlösung könne Israel Sicherheit und den Palästinenser:innen ein Leben in Freiheit und Würde bringen. US-Präsident Joe Biden versucht, dies der rechten israelischen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit einem eventuellen Friedensschluss mit Saudi-Arabien schmackhaft zu machen. Der EU-­Aussen­beauftragte, Josep Borrell, liess sich zur Aussage hinreissen, notfalls müsse Israel ein Friedensplan aufgezwungen werden. Netanjahu beeindruckt das alles wenig, gebetsmühlenartig wiederholt er: Mit ihm gebe es keinen palästinensischen Staat. Punkt. So wenig es derzeit auf israelischer Seite einen Verhandlungspartner gibt, so wenig gibt es diesen aufseiten der Palästinenser:innen. Für die Autonomiebehörde und deren Präsident Mahmud Abbas haben die meisten Palästinenser:innen nur noch Verachtung übrig. Die Hamas erfreut sich so grosser Beliebtheit wie noch nie.

Ein Leben in Freiheit und Würde

Wadie Abu Nasser, palästinensisch-christlicher Israeli aus Haifa und Leiter eines Thinktanks, kennt und versteht beide Seiten. Tags zuvor traf er sich mit Vertretern von Netanjahus Likud, heute trifft er sich mit Vertreter:innen der Autonomiebehörde. Den Israelis sagte er: «Mahmud Abbas hat der Gewalt abgeschworen. Und was habt ihr ihm dafür gegeben? Nichts. Ihr habt ihn gedemütigt, wo es nur geht. Das Ergebnis ist die Hamas. Die Hamas werdet ihr am Ende militärisch bezwingen. Doch politisch wird sie nicht verschwinden. Das wird nur gelingen, wenn ihr die Besetzung beendet.» Den Palästinenser:innen wird er sagen: «Die Jüd:innen haben am 7. Oktober jegliches Gefühl von Sicherheit verloren. Das ist nicht im Interesse der Palästinenser:innen. Denn jemand, der sich bedroht fühlt, glaubt nicht an Frieden, sondern an Verteidigung, an Vergeltung.» Statt die Hamas hochzujubeln, müssten die Palästinenser:innen mit friedlichen Mitteln gegen die Besetzung demonstrieren. «Sagt ihnen: ‹Wir wollen keine Juden töten. Aber wir wollen in Freiheit und Würde leben.›»

Das klingt wie ein frommer Wunsch. Sie hätten geglaubt, die Palästinenser:innen im Gazastreifen wollten wie die Israelis einfach nur ein normales Leben leben, sagt Avital, der Sicherheitsmann aus Nir Oz. «Aber sie wollen uns alle umbringen: Juden, Israelis, jeden. Jetzt haben wir verstanden, es gibt keine Mitte. Es gibt nur Gut und Böse.» Die Palästinenserin Ghadir Saleh sagt dazu: «Unser Leben wird von Tag zu Tag unerträglicher. Aber ihr im Westen seht nur die israelische Seite. Hört uns endlich zu!»