Kommentar von Çiğdem Akyol: Jeder Gewalt folgt Gegengewalt

Nr. 2 –

Die Ermordung führender Hamas-Vertreter lässt eine Deeskalation in weite Ferne rücken. Weitere Akteure heizen die Situation zusätzlich an.

Es ist eine weitere Eskalation in einer ohnehin hochsensiblen Situation: Die Ermordung von Saleh al-Aruri, dem Vizechef der Hamas, am 2. Januar mitten in Beirut hat das Risiko eines Flächenbrands in der Region verschärft. Bisher gibt es keine offizielle Bestätigung Israels, den Drohnenangriff auf Aruri ausgeführt zu haben. Doch dass Israel grosses Interesse an dessen Tod hatte, ist unbestritten. Direkt nach dem am 7. Oktober durch die Hamas verübten Massaker hiess es aus der Regierung, man werde die Strukturen der Organisation zerstören. «Was wir unseren Feinden in den kommenden Tagen antun werden, wird in ihnen für Generationen nachhallen», kündigte Regierungschef Benjamin Netanjahu an.

In den vergangenen Jahrzehnten hat Israel mehrfach Kader seiner islamistischen Feinde getötet. 2004 traf es Ahmed Jassin und Abdelasis Rantisi, die Gründer der Hamas, nun Aruri. Sie wurden Opfer des Hasses, den sie predigten. Wenn allerdings Netanjahu den Geheimdienst Mossad anweist, Hamas-Führer zu töten, wo auch immer sie sich aufhalten, offenbart das die Ratlosigkeit des Ministerpräsidenten. Denn noch nie ist es einer israelischen Regierung gelungen, mit der Ermordung von Feinden einer politischen Lösung des Konflikts näher zu kommen. Auf jede Gewalt folgte Gegengewalt – warum sollte das jetzt anders sein? Wird der Krieg enden, wenn Israel Jahja Sinwar, den untergetauchten Anführer der Hamas, auszuschalten vermag? Wohl kaum. Nach jedem Schlag organisiert sich die Hamas neu.

Aruris Tod erschwert Verhandlungen über eine erneute Feuerpause. Auch für die Dutzenden noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln bedeutet Aruris Ermordung einen herben Rückschlag. Er soll einer der Unterhändler gewesen sein beim Versuch, die Entführten freizubekommen. Die israelische Regierung steckt in einem Dilemma. Wenn sie die Drahtzieher des 7. Oktober nicht jagt, zeigt sie gegenüber ihren Feinden Schwäche. Doch je länger sie den Gazastreifen bombardieren lässt und je mehr führende Islamisten sie im Ausland liquidiert, desto mehr wächst die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts – womit Israels Handlungsspielraum schrumpft. Dass es sich zum am vergangenen Sonntag durchgeführten tödlichen Drohnenangriff auf Wissam al-Tauil, Kommandeur der libanesischen Hisbollah, bekennt, macht es immer schwieriger, eine Deeskalation herbeizuführen.

Angeheizt wird die Situation durch weitere Akteure. Einen Tag nach der Tötung Aruris sprengten sich zwei Attentäter in der iranischen Stadt Kerman in die Luft. Fast hundert Menschen, die die Gedenkfeier zum vierten Todestag des Kommandeurs der Revolutionsgarden, Kassem Soleimani, besuchten, kamen ums Leben. Zur Tat bekannte sich der sunnitisch geprägte IS, der die Schiit:innen – im Iran die Bevölkerungsmehrheit – als Abtrünnige vom Islam betrachtet. Die iranische Führung jedoch macht Israel dafür verantwortlich und kündigte Vergeltung an. Sie hat Israel wiederholt vorgeworfen, militante Gruppen bei Anschlägen in der Islamischen Republik zu unterstützen. Der Iran provoziert Israel seit Ende November, indem er die mit ihm verbündeten Huthi-Rebellen in Jemen Schiffe mit angeblicher Verbindung zu Israel angreifen lässt. Zudem attackieren die Huthi Israel mit Drohnen und Raketen – der Iran scheut die direkte Auseinandersetzung, hält so aber das Feuer am Lodern.

Niemand würde von einer weiteren Eskalation profitieren. Es braucht eine Lösung, die die Kämpfe im Gazastreifen stoppt und den Weg für eine Beendigung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinenser:innen aufzeigt. Initiativen im Kleinen, Ideen und Vorschläge gäbe es. Doch die politischen Blockaden, die inneren Widersprüche, die Verletzungen in allen Lagern sind zu gross. Entsprechend ist keine tragfähige Lösung in Sichtweite.