Literatur: Widerständig und solidarisch

Nr. 50 –

Abelke Bleken wird im 16. Jahrhundert als Hexe hingerichtet, Britta Stoever stösst in der Gegenwart auf Blekens Schicksal: Jarka Kubsova verbindet im Roman «Marschlande» die Geschichten der beiden Frauen.

Portraitfoto von Jarka Kubsova
Jarka Kubsova erzählt von den Sehnsüchten eigenwilliger Frauen. Foto: Christoph Niemann

Auf den Scheiterhaufen des 15. und 16. Jahrhunderts, so beschreibt es die marxistische Feministin Silvia Federici, wurden nicht nur die Leben unzähliger Frauen vernichtet, sondern «eine ganze Welt von sozialen Beziehungen, auf denen die gesellschaftliche Macht der Frau basierte, und ein riesiger Korpus der Weisheit, der über Generationen von Frauen weitergegeben worden war».

Die sozialen Beziehungen zwischen Frauen, die über die Jahrhunderte und die allmähliche Durchsetzung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung zerrüttet wurden, nimmt Jarka Kubsova in ihrem zweiten Roman in den Blick. Im Zentrum stehen zwei Protagonistinnen. Britta Stoever ist fiktiv und in der Gegenwart angesiedelt. Sie zieht mit Kindern und Ehemann ins Hamburger Marschland. Die Nachbar:innen nennen ihr Haus «Eispalast». Als solchen lässt sich auch die familiäre Situation beschreiben: Die Ehe kriselt, die Kinder gewöhnen sich nur schlecht an die Umgebung, und Stoever spürt eine wachsende Unzufriedenheit darüber, ihre Forschungsarbeit an der Universität für die Familie aufgegeben zu haben. Nach wie vor ist die Geografie ihre Leidenschaft: «Als Geographin sieht man nicht nur in den Raum, man sieht auch in die Zeit.» Um sich vor dem Auspacken der Umzugsschachteln zu drücken, unternimmt Stoever lange Spaziergänge durch die karge Marschlandschaft. So kommt sie auf die Spur von Abelke Bleken.

Enteignet und verfolgt

Bleken ist fiktionalisiert, hat aber eine historische Vorlage: Die Bäuerin Abelke Bleken wurde am 18. März 1583 in den Hamburger Marschlanden als «Hexe» ermordet. Sie hatte als unverheiratete und allein lebende Frau einen Hof besessen und geführt, durch einen Deichbruch wurde ihr Land versehrt. Bleken und ihre Nachbar:innen waren nach dem Deichbruch wegen fehlender Arbeitskräfte nicht imstande, den Schaden zu beheben. Dies führte zu ihrer Enteignung, die Höfe wurden zu einem grossen Gut fusioniert. Federici vertritt die These, dass Landenteignungen und Hexenverfolgungen zusammengedacht werden müssen: Hexereivorwürfe halfen dabei, sich unrechtmässig des Eigentums von Frauen zu bemächtigen (siehe WOZ Nr. 41/23). Als sich nach der Vertreibung von Bleken Unglück aufseiten des neuen Besitzers häuft, wird sie dafür verantwortlich gemacht. Abelke Bleken ist die einzige als Hexe verurteilte Frau in Hamburg, deren Aussagen vor Gericht dokumentiert sind. Unter Folter «gesteht» sie ihre Teufelsbuhlschaft.

Kubsovas Entscheidung, die Geschichten dieser beiden Frauen zu parallelisieren, ist auf den ersten Blick erstaunlich. Ihre historischen und materiellen Lebensumstände scheinen allzu verschieden. Wo die eine von ihrem Land vertrieben, zunehmend aus jeglichen sozialen Zusammenhängen isoliert und schliesslich als Hexe hingerichtet wird, lebt die andere in Sicherheit.

Das punktuelle Aufgreifen von Ereignissen aus ihren beiden Leben führt aber vor Augen, welche Auswirkungen Hexenverfolgungen (also systematische Femizide) und struktureller Frauenhass bis in die Gegenwart hinein haben. Die Beschäftigung mit Bleken und ihrer Ausgrenzungserfahrung verändert Stoevers eigenes Leben nachhaltig. Scheinbar unzusammenhängende Begebenheiten lassen sich nun in eine historische Kontinuität einordnen. Dass Stoevers Tochter an der neuen Schule Opfer von digitaler Gewalt wird und die Bilder, die sie von sich postet, von anderen mit «Schlampe» oder «Die hats so nötig» kommentiert werden, ist Ausdruck davon, dass unabhängige und eigenwillige Frauen noch immer bestraft werden. Dies umso mehr, wenn sie sich gegen Unrecht wehren. So liest sich auch das Zitat der irischen Autorin Doireann Ní Ghríofa, das Kubsova ihrem Roman voranstellt: «Dies ist ein weiblicher Text, geschrieben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wie spät es ist. Wie viel sich verändert hat. Wie wenig.»

Aus Kämpfen lernen

Kubsovas Text zeichnet nach, wie Hexenverfolgungen ganze Gemeinschaften zerstört haben und eben auch solidarische Bündnisse zwischen Frauen: «Frauen hatten Gemeinschaften gebildet, die stärkten, im Kollektiv konnten sie sich gegen die Willkür von Männern behaupten. Aber die Hexenverfolgungen […] säten Misstrauen, führten zum gegenseitigen Beobachten und Bezichtigen, trieben einen Keil zwischen Freundinnen, zwischen Verwandte.» Die Frauen in Kubsovas Roman werden alle auf unterschiedliche Weisen damit konfrontiert, dass die Gesellschaft, in der sie leben, ihnen misstraut, sie kleinhält und demütigt, in Kleinfamilien zwängt, ihre Körper und ihre Arbeit ausbeutet, sie letztlich auslöschen will.

Umso wichtiger also, an die Kämpfe von Frauen zu erinnern. Ihre Sehnsüchte zu kennen. Stoevers Freundin Ruth führt ein Archiv der unerhörten Frauen: «Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in anderem Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es widerfuhr anderen.» Kubsovas Text versammelt widerständige Frauen und wird selbst zum solidarischen Gewebe, das Bündnisse zwischen Frauen aus unterschiedlichen historischen Zeiten neu knüpft.

Buchcover von «Marschlande»
Jarka Kubsova: «Marschlande». Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2023. 320 Seiten. 34 Franken.

Die Autorin liest am Donnerstag, 25. Januar 2024, um 20 Uhr in der Buchhandlung Kapitel in Zürich, am Freitag, 26. Januar 2024, um 20 Uhr in der Leserei in Zofingen.