Krieg in Nahost: Die Zeit vor dem Einmarsch

Nr. 43 –

Immer wieder verschiebt Israel den Start einer Bodenoffensive in Gaza – wohl auch auf Druck der USA. Unterdessen spitzt sich die Lage für die palästinensische Bevölkerung weiter zu.

Seit Tagen stehen Zehntausende israelische Soldat:innen an der Grenze zum Gazastreifen für eine Bodenoffensive bereit – doch der Befehl zum Einmarsch bleibt, jedenfalls bis Redaktionsschluss, aus. Die Armee sei «bereit und entschlossen», sagte deren Sprecher Daniel Hagari am Dienstag. Für die nächste Stufe im Krieg fehle allerdings die Entscheidung der Regierung. Warum diese auf sich warten lässt, ist in Israel Gegenstand zahlreicher Debatten. Medienberichten zufolge gehört wohl Regierungschef Benjamin Netanjahu selbst, trotz seiner entschlossenen Rhetorik, zu den Bremsern. Die Hamas müsse zerstört werden, hatte Netanjahu wiederholt erklärt. Zugleich aber verbreiteten seine Unterstützer:innen zuletzt zunehmend die Botschaft, dass vor einem Einmarsch weitere Luftangriffe nötig seien. Der Hamas in Gaza damit beizukommen, wird allerdings – darüber herrscht in den Debatten Einigkeit – kaum möglich sein.

Druck aus Washington

Für Israels Abwarten mag es verschiedene Gründe geben. Auf die Soldat:innen wartet in Gaza ein komplexes System von Verstecken und Tunneln, in denen sich die Hamas-Kämpfer gut auskennen. Zudem dürfte die Bevölkerung von Gaza, unabhängig von ihrer Haltung zur Hamas, einen Einmarsch kaum als Befreiung feiern. Der Einsatz könnte viele Soldat:innen das Leben kosten, ohne dass klar ist, was danach geschehen soll. Selbst bei einem militärischen Sieg über die Hamas bliebe die Frage, wer Gaza künftig verwalten soll. Diese hat Israel bisher weitgehend unbeantwortet gelassen.

Laut US-Medien soll auch Druck aus den USA zum Verzögern der Bodenoffensive beitragen. Die US-Regierung möchte mehr Zeit für Hilfslieferungen und für Pläne, um zusätzliche zivile Opfer zu vermeiden. Zudem will sie die Verhandlungen über die Freilassung der rund 220 Geiseln voranbringen, unter denen auch mehrere US-Bürger:innen sind. Die Hamas hat diese Hoffnung zuletzt mit der Freilassung von vier Geiseln befeuert. Über weitere Freilassungen wird durch Vermittler:innen aus Katar verhandelt. Auch fordern die USA von Israels Regierung immer wieder, mehr Hilfslieferungen über den ägyptischen Grenzübergang Rafah zuzulassen, um die 2,2 Millionen Einwohner:innen Gazas zu versorgen, von denen mittlerweile rund 1,4 Millionen aus ihren Häusern vertrieben wurden. Die etwa fünfzig Lkws mit Hilfsgütern, die seit Samstag in den Küstenstreifen gelassen wurden, bezeichnete Tamara Alrifai vom Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) als «Tropfen im Ozean».

Warnung vor «kollektiver Bestrafung»

Wegen der von Israel auferlegten Blockade fehlt es in Gaza an sauberem Wasser, Essen und Strom. Sechs Spitäler mussten wegen mangelndem Treibstoff für Generatoren ihren Betrieb einstellen, teilte die Weltgesundheitsorganisation mit. Laut Ärzt:innen vor Ort würden sich zunehmend Krankheiten im Zusammenhang mit der mangelnden Hygiene und den überfüllten Unterkünften ausbreiten. Fast 600 000 Menschen suchen derzeit in rund 150 UNRWA-Einrichtungen Schutz.

Und schliesslich droht bei einem Einmarsch eine weitere Eskalation des Konflikts, etwa mit der libanesischen Hisbollah- oder anderen proiranischen Milizen in der Region. Seit Tagen kommt es immer wieder zu gegenseitigem Beschuss an der libanesischen Grenze. Israel hat zahlreiche Ortschaften entlang seiner Nordgrenze evakuiert.

Je länger die Luftangriffe und die Abriegelung des Gazastreifens andauern, umso schlimmer wird die Lage für die Zivilist:innen dort. Seit dem 7. Oktober sollen laut den von der Hamas kontrollierten Behörden gegen 6000 Menschen getötet worden sein – darunter über 2300 Kinder. Zudem werden mehr als 1500 Menschen unter den Trümmern vermisst. Die Angaben lassen sich nicht überprüfen. Die horrende Zahl ziviler Opfer und die drohende humanitäre Krise schmälern die internationale Akzeptanz für Israels Gegenschlag nach dem Angriff der Hamas.

Uno-Generalsekretär António Guterres forderte am Dienstag eine Waffenruhe. Die «abstossenden Angriffe» der Hamas in Israel könnten keine «kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes» rechtfertigen. In Gaza fänden «offensichtliche Verletzungen des humanitären Völkerrechts» statt. Zudem betonte Guterres, der Angriff der Hamas habe «nicht in einem Vakuum» stattgefunden. Ihm seien «56 Jahre erdrückender Besatzung» vorausgegangen. Diese habe den Palästinenser:innen jede Hoffnung auf eine politische Lösung genommen. Israels Uno-Botschafter Gilad Erdan forderte daraufhin Guterres’ Rücktritt.