Wahlen in Lateinamerika: Einer, mit dem niemand gerechnet hat

Nr. 34 –

In Guatemala hat ein Sozialdemokrat die Präsidentschaftswahl gewonnen. Aber wird Bernardo Arévalo auch tatsächlich regieren können?

Bernardo Arévalo
Die Elite wird seinen Triumph wohl kaum hinnehmen: Bernardo Arévalo nach der Stimmabgabe. Foto: Camilo Freedman, Laif

Vor zwei Monaten noch hätte niemand in Guatemala auch nur einen Quetzal (umgerechnet gut zehn Rappen) auf ihn gewettet. Nun wird Bernardo Arévalo der nächste Präsident des grössten zentralamerikanischen Landes. Die Bekämpfung der Korruption war im Wahlkampf sein wichtigstes Thema. Nach dem vorläufigen Ergebnis hat er damit die Stichwahl vom vergangenen Sonntag mit 58 Prozent der abgegebenen Stimmen klar gewonnen. Sandra Torres, die Kandidatin der korrupten Elite, kam gerade einmal auf 37 Prozent.

Man darf diesen scheinbar überwältigenden Sieg Arévalos aber nicht überbewerten. Der 64-jährige sozialdemokratische Soziologe, Sohn des früheren Reformpräsidenten Juan José Arévalo (1945–1951), wurde letztlich eher zufällig und wegen einer Reihe missratener Ränkespiele der Elite zum gewählten Präsidenten.

Im Parlament eine Minderheit

Gemäss den Umfragen im Vorfeld des ersten Wahlgangs vom 25. Juni war er chancenlos. Selbst die korrupte Wahlbehörde, die mit fadenscheinigen Begründungen alle Kandidat:innen von der Wahl ausgeschlossen hatte, die der Elite hätten gefährlich werden können, hielt ihn für so unbedeutend, dass sie ihn – gewissermassen als Feigenblatt – im Rennen liess. Davon hat Arévalo profitiert und alle Stimmen eingesammelt, die sich auf die verhinderten Kandidat:innen verteilt hätten. Das reichte für knapp zwölf Prozent der Stimmen – genug, um in einem Feld von über zwanzig Bewerber:innen in die Stichwahl zu kommen.

Oberstaatsanwalt Rafael Curruchiche, der aggressivste juristische Wadenbeisser im Dienst der Elite, hatte vor dem zweiten Wahlgang noch versucht, Arévalos Partei Movimiento Semilla (Bewegung Saatkorn) wegen angeblicher Formfehler zu zerschlagen und Arévalo damit zu disqualifizieren. Er scheiterte am Obersten Gericht: In Guatemala dürfen Parteien während laufender Wahlen nicht aufgelöst werden. Angesichts einer Wahlbeteiligung von nur knapp 45 Prozent aber erscheint Arévalos Sieg vom Sonntag nicht mehr so überwältigend, wie dies auf den ersten Blick der Fall sein mag.

Niemand in Guatemala geht indes davon aus, dass die schmale und steinreiche Elite, die den Staat und seine Institutionen seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 fest im Griff hat, den Wahlsieg eines gemässigten Sozialdemokraten einfach so hinnehmen wird. Zumal sich dieser der Korruptionsbekämpfung verschrieben hat. Sie hatte schon vor dieser Wahl mehrere Dutzend Staatsanwält:innen, die sich nicht korrumpieren liessen, ins Exil getrieben. Journalist:innen, die korrupte Machenschaften aufdeckten, kamen ins Gefängnis. Arévalo selbst sagte bei seiner ersten Rede nach dem Wahlsieg: «Wir wissen, dass es politische Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft und durch korrupte Richter geben wird.» Er hoffe aber, «dass unser machtvoller Sieg klarmacht, dass es dafür keinen Platz mehr gibt».

Oberstaatsanwalt Curruchiche freilich hat bereits angekündigt, dass er das Verfahren zur Auflösung von Arévalos Partei wieder aufnehmen werde, sobald der Wahlprozess mit der Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses in ein paar Tagen abgeschlossen sei. Auf Guatemala kommen spannende, unter Umständen auch unruhige Zeiten zu. Und selbst wenn Arévalo es schafft, am 14. Januar kommenden Jahres den Amtseid zu schwören, wird er es danach nicht leicht haben. Sein Movimiento Semilla – eine Sammelbewegung der städtischen akademischen Mittelschicht – verfügt im Parlament nur über 23 der 160 Sitze. Arévalo wird gegen eine überwältigende rechte Mehrheit regieren müssen.

Eine klassische Auswahl

Ähnlich wie Arévalo, der in Guatemala zum Überraschungskandidaten geworden war, erging es nun auch Daniel Noboa in Ecuador. Beim ersten Wahlgang um die Präsidentschaft vom vergangenen Sonntag schaffte er es überraschend in die Stichwahl. Die Umfragen hatten ihm nur den siebten oder achten Platz zugetraut. Aber dann machte der 35-Jährige bei Fernsehdebatten eine gute Figur – und auch sein prominenter Nachname hat ihm wohl geholfen: Er ist der Sohn von Álvaro Noboa, dem grössten Bananenmagnaten des Landes. Der wiederum ist nicht nur der reichste Mann in Ecuador, er hat sich auch fünf Mal vergeblich ums Präsidentenamt beworben.

Die Gegnerin bei der Stichwahl ist ebenfalls eine alte Bekannte: die 45-jährige Luisa González von der Partei Revolución Ciudadana hatte schon unter dem linken Präsidenten Rafael Correa (2007–2017) mehrere Regierungsämter inne. Sie erhielt im ersten Wahlgang 33, Noboa 24 Prozent der Stimmen. So gibt es für die Wähler:innen bei der Stichwahl am 15. Oktober eine für Ecuador schon fast klassische Auswahl: eine linke Kandidatin gegen einen smart wirkenden neoliberalen Wirtschaftsmann.

Der Sieger oder die Siegerin wird nur eineinhalb Jahre regieren: bis zum Ende der Wahlperiode, für die eigentlich der rechte Präsident Guillermo Lasso gewählt worden war. Das Parlament hatte Mitte Mai ein Amtsenthebungsverfahren wegen Korruption gegen ihn eingeleitet. Um dieses zu verhindern, hat Lasso das Parlament aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen ausgeschrieben.