Stillen: Muttermilch für die Weltwirtschaft

Nr. 24 –

Es gilt als die natürlichste Sache der Welt und Nonplusultra der idealen Mutterschaft. Doch der Hype ums Stillen setzt Frauen enorm unter Druck – und verschleiert, dass es hier um Arbeit geht. Vier Mütter erzählen.

«Das Beste fürs Baby», «Breast is best» – wenn übers Stillen gesprochen wird, ist nur der Superlativ gut genug: Stillende Frau in Australien. Foto: Brendan Esposito, Getty

Daniela: «Ich erschrak über den Schmerz»

«Für mich war immer klar, dass ich stillen würde: Ich wurde selber gestillt, in meinem Umfeld hatte das Stillen immer einen hohen Stellenwert. Obwohl ich von Freundinnen wusste, dass es auch schwierig sein kann, habe ich mich von den romantisierenden Bildern verleiten lassen – und war umso erschrockener über den Schmerz.

Das Ansetzen war nach der langen Geburt ein Riesenstress, mein Partner hat die ersten Tage die Muttermilch mit der Pipette verabreicht, weil Leano* anfangs nicht an der Brust trinken konnte. Das war ein grosser Schock, mein Erwartungsbild wurde völlig zerstört. Ich hatte das Gefühl: Ich bin Zünglein an der Waage, ich bin so wichtig für dieses Kind, möchte das gar nicht sein. Wegen der blöden Brust. Als er dann zu Hause trinken konnte, hat er sich ständig verschluckt. Zudem war die erste Phase für mich extrem schmerzhaft, vor allem an den Brustwarzen. Abends wollte er fast stündlich trinken, immer wenn er weinte, dachte ich: ‹Oh nein, es kann doch nicht schon wieder so weit sein.› Ich war emotional nicht bereit, diesen Schmerz nochmals auszuhalten. Ich hatte das Gefühl, dass das Kind mich aussaugt. Zugleich war ich überzeugt, dass ich ihm etwas vorenthalte, wenn ich ihn nicht stille. Ich fühlte mich schlecht, dass ich nicht die gute Mutter mit ihrer bedingungslosen Hingabe sein konnte, wie ich dachte, dass es von mir erwartet würde. Unsere Hebamme erwiderte auf meine Zweifel nur: ‹Als die Menschen noch in Höhlen wohnten, haben sie das auch so gemacht.›

Doch nach zweieinhalb Monaten wurde es besser. Jetzt ist Stillen für mich lustvoll, stimmig, schön – und auch praktisch. Ich habe Leanos Getränk immer mit dabei. Er kuschelt sich an mich, und ich geniesse die körperliche Nähe. Jetzt habe ich das Gefühl, über ein Zaubermittel zu verfügen. Dennoch bin ich überzeugt, dass Stillen traditionelle Rollenmuster verfestigt. Diese Potenz, die man als Mutter hat, ist ja auch verlockend. Und das kann die Falle sein, dass man plötzlich nur noch unbezahlte Care-Arbeit macht. Zugleich ärgert es mich, dass diese Arbeit so entwertet wird. Schade, können wir das Stillen nicht einfach zelebrieren und geniessen.»


«Das Beste fürs Baby», «Breast is best» oder «die schönste und natürlichste Sache der Welt»: Wenn übers Stillen gesprochen wird, ist nur der Superlativ gut genug. Zweifellos ist Muttermilch die ideale Ernährung für Säuglinge. Im Gegensatz zu Kuhmilch ist sie von Menschen für Menschen gemacht (noch so ein Slogan). Stillen senkt beim Baby das Risiko für Infektionskrankheiten und Diabetes, bei Müttern das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs. Was öffentlich kaum Thema ist: Stillen klappt nicht einfach so, es muss gelernt werden. Stillen ist mühsam, schmerzhaft und zeitintensiv – besonders am Anfang. Stillen laugt aus und erschöpft. Stillen ist Arbeit. Und fast schon ein Tabu: Nicht jede Frau, die ein Kind geboren hat, kann ihr Kind auch voll stillen.

Claudine*: «Wir fuhren ein richtiges Regime auf»

«Ich habe im Geburtshaus geboren, und alles ging gut. Mein Kind trank schon, als es das erste Mal an die Brust kam. Ich dachte nicht im Traum, dass noch Schwierigkeiten kommen könnten. Die fingen am zweiten oder dritten Tag an. Mein Sohn weinte oft, die Hebamme vermutete, dass er zu wenig Milch bekomme. Da brach eine Welt für mich zusammen. Ich hatte grosse Angst, dass mein Kind zu wenig zu trinken bekommt, wir holten schnell Milchpulver, organisierten eine Milchpumpe – wir fuhren ein richtiges Regime auf: Alle zwei Stunden habe ich meine Brust gewärmt, dann gestillt, dann abgepumpt und den Schoppen gegeben. Das Ganze dauerte eineinhalb Stunden, und nach einer halben Stunde Pause ging es wieder von vorne los. Das Pumpen war für mich schrecklich, weil ich sah, wie wenig Milch kommt. Ich liess nichts unversucht, ging in die Akupunktur, wurde mit Phytotherapie unterstützt, stellte meine Ernährung um. Ich trank mega viel Rivella. Das hat ein bisschen genützt. Rückblickend denke ich, dass ich zeitweise nicht ich selbst war, so verkrampft hielt ich an diesem Idealbild fest.

Am Anfang ging das Stillen selbst gar nicht so schlecht, es war auch schön, aber es reichte mengenmässig einfach nicht. Ich hatte grosse Zweifel an mir selbst, dass ich mein Kind nicht ernähren kann. Und es war schwierig, andere Mütter zu sehen, die stillten. Es war ein Frust, denn trotz wenig Milch bekam ich die negativen Seiten voll mit. Der Milcheinschuss war sehr schmerzhaft, nach drei Wochen hatte ich eine Brustentzündung und musste vier Tage ins Spital. Dort hatte ich mehrere Stillberatungen, jede sagte etwas anderes. Die letzte Beraterin sagte mir kurz vor dem Austritt: ‹Wenn Sie nicht pumpen wollen, müssen Sie das auch nicht.› Das war eine Erlösung. Ich bin nach Hause, habe die Pumpe aus dem Zimmer verbannt und wollte sie nie mehr sehen. Ab dann habe ich gestillt, so viel halt möglich war, und mit Schoppen zugefüttert. Mit der Zeit habe ich auch die Vorteile gesehen, dass mein Partner und ich beide füttern konnten. Die Arbeit war gerechter verteilt, ich hatte mehr Freiheiten.

Während die WHO empfiehlt, Kinder mindestens sechs Monate voll zu stillen, dauert der Mutterschaftsurlaub in der Schweiz gerade mal 14 Wochen: Stillende Frau in Schottland. Foto: Colin Craig, Alamy

Doch das Thema blieb für mich schwierig. Man liest und hört überall: Stillen ist das Beste für dein Kind. Einmal las ich in einem Buch, dass Schoppennahrung wie Fastfood für Babys sei. Ich schmiss das Buch wutentbrannt in eine Ecke. Trotz allem stillte ich meinen Sohn sechs Monate lang. Als er immer öfter den Kopf wegdrehte, war klar: Jetzt stille ich ab. Während andere Mütter Mühe hatten, abzustillen, und mit vollen Brüsten kämpfen mussten, ging es bei mir problemlos.

Beim zweiten Kind hatte ich immer noch nicht wahnsinnig viel Milch, aber ich konnte es voll stillen. Das hat mich etwas versöhnt mit dem ganzen Thema. Seither kann ich auch viel besser darüber reden. Ich denke, dass das sehr wichtig ist, um das Bild des Stillens etwas näher an die Realität zu bringen.»


Wer Infos zum Stillen sucht, verliert sich schnell in einem Meer an Ratgeberliteratur, die meist die Natürlichkeit des Stillens lobpreist. Nur: Wenn Stillen so natürlich ist, wieso braucht es dann überhaupt diese Fülle an Ratgebern? Dort finden sich zahlreiche gut gemeinte Tipps, wenn es nicht so recht klappt: Bockshornklee und Kreuzkümmel essen (aber bloss keinen Salbei!), Stilltee trinken, Brust massieren, Warzen stimulieren, pumpen, pumpen, pumpen – und dabei immer schön entspannt bleiben und intensiv ans Baby denken. Der unterschwellige Tenor: Jede Frau kann stillen, sie muss sich nur genug Mühe geben und es auch wirklich wollen.

«Es macht mich so wütend, dass so getan wird, also ob jede Frau ihr Kind voll stillen könnte», sagt die Hebamme Franziska Summermatter. «Dabei gibt es zahlreiche medizinische Gründe, die das behindern können: hoher Blutverlust bei der Geburt, Unterfunktion der Schilddrüsen, die hormonelle Situation, mangelndes Brustgewebe … Es ist sehr entlastend für die Frauen, wenn ich ihnen das sage.» Sie empfehle dann, einfach so viel zu stillen, wie möglich sei, und den Rest mit Schoppen zuzufüttern. «Auch Schöppelen kann sehr befriedigend sein.»

Serena Debrunner, ebenfalls Hebamme, nennt einen weiteren Grund: «Stress! Diese Idealisierung und Romantisierung der Mutterschaft löst extrem viel Stress aus, das Stresshormon Cortisol wiederum hemmt die Milchbildung. Und schon haben wir den Teufelskreis.» Ein weiteres Problem sei die fehlende Wissensvermittlung: «In der nuklearen Kleinfamilie, dem heute in Europa vorherrschenden Familienmodell, werden kaum Stillerfahrungen weitergegeben.» In der medizinischen Betreuung während der Schwangerschaft wird dieses Defizit nicht ausgeglichen. Die Schweizer Krankenkassen bezahlen, sofern es keine Komplikationen gibt, sieben sogenannte Schwangerschaftskontrollen. «Eine solche Kontrolle bei einer Gynäkologin dauert in der Regel maximal eine halbe Stunde. Es wird kontrolliert, ob es dem Baby und der Mutter gut geht, Blut- und Urinproben werden genommen – da bleibt keine Zeit, grundlegend übers Stillen zu informieren.» Heute können Schwangere auch für vier der sieben Kontrollen zu einer Hebamme gehen, die drei Ultraschallkontrollen machen GynäkologInnen, die sich jedoch bezüglich Stillen oft weniger gut auskennen als die Hebammen. «In Chile, wo ich herkomme, können auch Hebammen Ultraschalls durchführen. In der Schweiz wird uns diese Weiterbildung verwehrt. Aber wir kämpfen dafür, dass sich das ändert.»

Isabella*: «Ab und zu habe ich ein schlechtes Gewissen»

«Während meiner ersten Schwangerschaft habe ich mir die Möglichkeit des Stillens sehr schön vorgestellt: ‹Das Kind ist in mir gewachsen, jetzt kann ich es ernähren.› Zugleich spürte ich einen gewissen Druck – vor allem aus Büchern, von einer Hebamme habe ich mich nie dazu gedrängt gefühlt. Aber andere Optionen wurden auch nie erwähnt. Wenn ich jetzt an die Stillzeit zurückdenke, habe ich vor allem das Schwierige im Kopf: den komplizierten Anfang, die Schmerzen, das Gefühl, ich müsste etwas anders machen. Ich hatte viel zu viel Milch und sollte immer die Stillposition wechseln, damit es keinen Stau gibt. Mir war vorher nicht wirklich bewusst, dass man Stillen lernen muss. Alle sagten mir, ich solle mich entspannen. Und ich war so gestresst, weil ich nicht entspannt war.

Eine Mutter verbringt die ersten Wochen nach der Geburt acht oder mehr Stunden am Tag mit Stillen: Stillende Frau in England. Foto: Tim Clayton, Getty

Bei beiden Kindern hatte ich mehrere Brustentzündungen, bei meiner zweiten Tochter, Julia*, fast monatlich. Ich hatte immer wieder über vierzig Grad Fieber, musste Antibiotika nehmen, davon bekam ich wiederum eine Pilzinfektion und schluckte noch mehr Medis. Aber ich stillte weiter. Die Stillberaterin sagte mir, dass meine Milch trotz all der Antibiotika immer noch besser sei als Pulvermilch. Mein Partner hat ein paar Mal gefragt, warum ich nicht einfach abstille. Aber Abstillen ist auch nicht so einfach, wenn man viel Milch hat. Da drohen schnell der nächste Stau und die nächste Brustentzündung. Allein die Vorstellung machte mir wieder Stress. Mit anderen über mein Problem zu sprechen, fand ich schwierig, da zu viel Milch als viel unproblematischer gilt als zu wenig.

Als es sich nach vier Monaten endlich eingependelt hatte, verschaffte mir das Stillen dann viele innige Pausenmomente mit meiner Tochter. Ich konnte mich zurückziehen, oft sind wir zusammen eingeschlafen. Heute habe ich ab und zu ein schlechtes Gewissen: Julia hat Hautprobleme, und manchmal denke ich, dass es an den vielen Medis liegt, die ich genommen habe. Ich kann solche Gedanken auch immer wieder loslassen, aber es ist schon eine extreme Verantwortung, die auf uns Mütter übertragen wird.»


Ebenso häufig wie die körperliche Gesundheit wird ein weiterer positiver Effekt des Stillens hervorgehoben: die emotionale Bindung. Zweifellos entsteht diese beim Stillen. Doch nicht die Muttermilch ist der entscheidende Faktor, Bindung entsteht durch körperliche Nähe und die Zeit, die ein Kind mit seinen Eltern verbringt. Denn was würde das sonst für eine Mutter, die nicht stillt, ein queeres Elternpaar oder Adoptiveltern oder einen alleinerziehenden Vater bedeuten? In der penetranten Betonung, wie wichtig es für die emotionale Bindung sei, zeigt sich, was letztlich hinter dem Hype um das Stillen steht: das Ideal der heteronormativen Kleinfamilie. Die deutsche Autorin Mareice Kaiser schreibt: «Der Hype um das Stillen sorgt auch dafür, dass queere und andere Familienkonzepte marginalisiert werden.»

Doch Mütter tragen nicht nur die alleinige und volle Verantwortung für das physische und psychische Wohlergehen ihres Kindes – nein, auch für nichts weniger als das der Weltwirtschaft. So etwa hält sich der Glaube, dass Stillen die kognitive Entwicklung eines Kindes fördere. Es konnte zwar längst nachgewiesen werden, dass bei Studien, die zu diesem Schluss kamen, Faktoren wie Einkommens- und Bildungsstatus der Eltern ausser Acht gelassen worden waren. Organisationen wie das Kinderhilfswerk der Uno (Unicef) jedoch verbreiten diesen Mythos unverdrossen weiter. Die Gleichung geht in etwa so: Ein Kind, das gestillt wird, hat einen höheren IQ, ist besser in der Schule, findet einen besseren Job, verdient mehr Geld. Unicef Schweiz schreibt in einem Prospekt: «Der positive Stilleffekt auf die kognitive Entwicklung eines Kindes und die entsprechenden langfristigen Auswirkungen auf höhere Einkünfte haben wiederum Auswirkungen auf das Bruttonationaleinkommen eines Landes: Monetärer Verlust durch Nicht-Stillen wird in Ländern hohen Einkommens auf $ 231 Milliarden (…) beziffert und in der Schweiz auf 2,6 Milliarden US-Dollar im Jahr.» Wenn die Gesundheit ihres Kindes eine Frau nicht überzeugt hat zu stillen, so wird sie es hoffentlich für die Wirtschaft tun.

Ruth: «Scheisse, was tue ich dem Kind möglicherweise an?»

«Ich habe mich schon während der Schwangerschaft gegen das Stillen entschieden, aus verschiedenen Gründen. Von Freundinnen und meiner Mutter wusste ich, wie kompliziert es sein kann – und eben nicht ‹die natürlichste Sache› ist. Hinzu kam ein ganz persönliches Gefühl: Ich hatte keine Lust darauf, dass da ein Kind monatelang dauernd an meiner Brust saugt. Nach neun Monaten Schwangerschaft wollte ich meinen Körper wieder für mich haben. Der gesellschaftliche Druck – der ja schon während der Schwangerschaft auf Frauen ausgeübt wird – und die Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wird, dass Frauen nach der Geburt sowieso stillen: Das alles hat mich extrem wütend gemacht – und gleichzeitig in ein Dilemma gestürzt. Ich dachte: ‹Scheisse, was tue ich dem Kind möglicherweise an?› Denn die positiven Auswirkungen auf die Gesundheit des Säuglings waren mir natürlich auch bekannt. Doch ich bin nach wie vor überzeugt, dass es wichtiger ist für ein Kind, zufriedene Eltern zu haben, als Muttermilch zu bekommen.

Am wichtigsten für meine Entscheidung waren jedoch meine politischen Überzeugungen. Schon ohne Kinder ist es extrem schwierig, wirkliche Gleichstellung in einer Paarbeziehung zu realisieren. Meine Entscheidung fällte ich auch aus Selbstschutz, damit ich nicht die bin, die immer alles mehr und besser weiss. Und auch, damit mein Mann von Anfang an die gleiche Möglichkeit hat, auf körperlicher Ebene einen Bezug zum Kind aufzubauen.

Die ganzen Voruntersuchungen in der Schwangerschaft habe ich im Geburtshaus gemacht. Ich war sehr positiv überrascht, wie viel Verständnis sie dort für meinen Wunsch zeigten. Sie klärten mich nochmals über alle Vorteile des Stillens auf, versuchten aber überhaupt nicht, mich zu überreden, und informierten mich, wie ich auf natürlichem Weg oder mit einem Medikament den Milcheinschuss unterdrücken kann.

Da mein Kind im Bauch in Steisslage lag, musste ich für die Geburt aber doch ins Spital und am Schluss einen Kaiserschnitt machen lassen. Ich hatte ein Rezept dabei und habe ihnen von Anfang an klar gesagt, dass ich dem Kind nur das Kolostrum geben möchte. Ich musste es x-mal sagen, es ging ihnen nicht in den Kopf. Erstaunlicherweise war es im schulmedizinischen Kontext viel schwieriger, mit meinem Wunsch durchzudringen.

Nach der Geburt habe ich meinem Kind das Kolostrum an der Brust gegeben. Danach nahm ich das Medikament, um die weitere Milchbildung zu unterdrücken. Ich hatte Glück, dass mein Kind den Schoppen gut genommen hat. Mein Partner unterstützte mich dabei. Er genoss es, dass er auch füttern darf und kann. Für ihn war es mega wichtig und ganz neu, dass er eine körperliche Nähe zu unserem Sohn hat, weil er das von seinem Vater überhaupt nicht kennt. Die Nächte haben wir uns von Anfang an aufgeteilt. Das genoss er dann wohl etwas weniger.

Ich bin bis heute im Reinen mit meiner Entscheidung, zweifle aber manchmal daran, wie hilfreich sie tatsächlich für das Aufbrechen traditioneller Rollenbilder war. Es gibt viele andere Faktoren, die einen zur Mutter machen: verinnerlichte Bilder und die des Partners, Vorstellungen darüber, was ich oder er besser kann. Aber auch von aussen: Die Kita wendet sich immer zuerst an mich, wenn etwas ist. Mein Sohn ist glücklicherweise sehr gesund. In seinen dreieinhalb Lebensjahren war er erst einmal krank. Wäre er kränklich, würde ich mir wahrscheinlich ziemliche Vorwürfe machen.»


Der Schulungsfilm «Breast is best», der auch von der Stillförderung Schweiz vertrieben wird, beginnt so: «Muttermilch kostet nichts, spart Arbeit, steht immer zur Verfügung (…) und erst noch in schöner umweltfreundlicher Verpackung.» Nahezu alles daran ist falsch. Muttermilch ist nur gratis, wenn man Stillen nicht als Arbeit betrachtet, wie so oft bei von Frauen geleisteter unbezahlter Care-Arbeit. Im Film wird der Mutter gesagt, dass Neugeborene im «Minimum 8 bis 12 oder mehr Mahlzeiten in 24 Stunden» brauchten. Eine Mutter verbringt die ersten Wochen nach der Geburt gut und gerne acht oder mehr Stunden am Tag mit Stillen. Das geht nur mit Unterstützung – insbesondere wenn es noch ältere Geschwister zu betreuen gilt. So stillen in der Schweiz gemäss einer nationalen Studie alleinerziehende Mütter oder solche, deren Partner das Stillen nicht unterstützen, deutlich früher ab. Einer der häufigsten Gründe, abzustillen, ist demnach Erschöpfung – und dass sich Stillen nicht mit Erwerbsarbeit vereinbaren lässt. Denn während die WHO empfiehlt, Kinder mindestens sechs Monate voll zu stillen, dauert der Mutterschaftsurlaub in der Schweiz gerade mal 14 Wochen. Arbeitgeber sind zwar dazu verpflichtet, erwerbstätigen Müttern Stillzeit zu vergüten und entsprechende Räume (nicht das WC) zur Verfügung zu stellen. Es ist jedoch fraglich, ob dadurch die Gleichstellung oder nicht vielmehr die Mehrbelastung der Mütter gefördert wird.

Daniela: «Es ist ein schmaler Grat»

«Jetzt, wo ich bald wieder arbeiten gehe, hadere ich damit, mich ersetzbar zu machen und mich von dieser Symbiose zu verabschieden. Obwohl ich möchte, fällt es mir schwer, anderen Beziehungspersonen Raum zu geben. Es wäre viel einfacher, wenn wir eine längere Elternzeit hätten, in der die Väter auch mehr Zeit hätten.

Im Rahmen des Frauenstreiks haben wir bewirken können, dass bei uns im Büro ein Stillraum eingerichtet wurde. Uns stehen pro Tag neunzig Minuten zum Stillen oder Abpumpen zu. Aber ich weiss, dass das für mich schwierig wird, weil ich von mir selbst erwarte, bei der Arbeit immer Leistung zu bringen.

Eine Bekannte meinte einmal, dass es nichts Schlimmeres gebe als Mütter, die nicht abstillten. Und eine Stillberaterin sagte mir, dass viele Frauen nicht erzählen würden, wie lange sie stillten. Nach einem Jahr wird es völlig tabuisiert, wenn man noch weiter stillt. Wir bewegen uns auf einem ganz schmalen Grat, wenn es darum geht, was frau tun soll.»

* Name geändert.

Recherchierfonds

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