Schweiz–EU: Ein Brief für ein soziales Europa

Nr. 10 –

Intervention in der Schlussrunde: Der Europäische Gewerkschaftsbund fordert die EU-Kommission auf, die Lohnschutzmassnahmen der Schweiz zu respektieren.

Die Entsendung von ArbeiterInnen ist ein lukratives Geschäftsmodell. Es basiert auf dem Lohngefälle zwischen reichen und ärmeren EU-Staaten. So beträgt in Rumänien der mittlere Monatslohn 800 Franken, in Deutschland 3650, in der Schweiz 6250. Unternehmen aus Polen, Ungarn oder Rumänien haben sich auf die Ausnützung dieses Gefälles spezialisiert – und auch Schweizer Auftraggeber schlagen gerne Profit daraus.

Dank des Drucks der Schweizer Gewerkschaften installierte die Schweiz bei der Einführung der Personenfreizügigkeit ein ziemlich effektives Kontrollregime zum Schutz der Löhne. Es gilt der Grundsatz: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Niemand soll diskriminiert werden. Das Prinzip gilt mittlerweile auf dem Papier auch in den EU-Staaten, doch es wird weit weniger strikt durchgesetzt. Die EU-Kommission, sekundiert vom Europäischen Gerichtshof, hält das Primat der sogenannten Dienstleistungsfreiheit hoch. Arbeit wird als Ware betrachtet, die Rechte der ArbeiterInnen stören da bloss. Der Lohnschutz ist entsprechend einer der Knackpunkte bei der Verhandlung eines Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU.

Schweiz als Vorbild

Der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), Luca Visentini, hat den Lohnschutz in der Schweiz wiederholt als vorbildlich bezeichnet. Nun hat er in der Schlussrunde der Verhandlungen noch einmal interveniert und einen Brief an die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, geschrieben. Der Brief liegt der WOZ vor. Darin heisst es: «Insbesondere möchte der EGB erneut darauf hinweisen, wie wichtig es ist, die bestehenden Schweizer Flankierungsmassnahmen zu schützen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen und die Gleichbehandlung der entsandten Arbeitnehmer zu gewährleisten.»

Diese flankierenden Massnahmen dürften «in keiner Weise» durch eine neue Rahmenvereinbarung eingeschränkt oder abgeschafft werden. Seit 2004 hätten diese ihren Mehrwert für europäische und schweizerische Arbeitnehmer «unter vollständiger Einhaltung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Dienstleistungen» unter Beweis gestellt.

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wandte sich Ende Januar in diesem Sinn an den deutschen Arbeitsminister Hubertus Heil. Im Gegensatz zur Schweiz habe die EU den Lohnschutz bei den Entsendungen zugunsten der Dienstleistungsfreiheit vernachlässigt. Der DGB fordert daher im Schreiben an Heil eine harmonisierte, «sozial progressive Gesetzgebung». Sonst bleibe das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort blosse Makulatur. Im Umkehrschluss sei nicht nachvollziehbar, warum die Europäische Kommission nun den Schweizer Lohnschutz reduzieren wolle. Schliesslich gehe es genau um die Schutzvorschriften, die auf europäischer Ebene gestärkt werden müssten: «Die Schweizer flankierenden Massnahmen sind ein Vorbild.»

Die Wirtschaft diktiert

Am Beispiel von Süddeutschland haben die Autoren Andreas Rieger und Michael Stötzel für eine Unia-Studie recherchiert, wie die Politik der EU-Kommission von wirtschaftlichen Interessen dominiert wird. Demnach entsendet Deutschland jährlich etwa 40 000 Arbeitnehmende in die Schweiz. Allein baden-württembergische Handwerksbetriebe setzen in der grenznahen Schweiz jährlich mehr als eine Milliarde Euro um und beherrschen dort mittlerweile sogar einzelne Branchen. Ihnen sind die Auflagen der flankierenden Massnahmen natürlich ein Dorn im Auge. Sie beklagen den administrativen Aufwand. Mehr schmerzen dürfte sie, dass Schweizer KontrolleurInnen sie immer wieder bei Regelverletzungen und Lohndumping erwischen. Das kostet die Firmen unter anderem hohe Geldbussen.

Der Baden-Württembergische Handwerkstag verabschiedete daher im Oktober 2015 eine Resolution, die sich «wie der Blueprint für die Verhandlungen der EU-Delegation mit der Schweiz in den Jahren 2017/18» lese, schreiben die beiden Autoren in einer Broschüre. Andreas Rieger sagt gegenüber der WOZ: «Lohndumping ist weniger ein Problem der Personenfreizügigkeit – diese ist als solche ein Fortschritt für die Beschäftigten. Grosse Probleme gibt es aber bei den Entsendungen, hier hat sich ein eigentliches Geschäftsmodell der Unterbietung entwickelt.»

Anders als die Schweiz haben viele EU-Staaten keine starken Kontrollen etabliert, nur wenige Länder wie Österreich und Luxemburg verfügen wenigstens über ein dichtes Kontrolldispositiv. Entsendungen bewegen sich zwar gemessen am gesamten Arbeitsvolumen in Europa im Promillebereich, lösen jedoch in einzelnen Branchen Spannungen aus. Entfallen Kontrollen, kann das den Lohndruck auf alle erhöhen.

Die heisse Kartoffel

Dass es bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen in Brüssel zu nennenswerten Fortschritten kommt, ist kaum zu erwarten. Die Verhandlungen hat zwar neu Staatssekretärin Livia Leu übernommen, doch scheinen die Gespräche nicht allzu ausführlich zu werden. Wie es dem Vernehmen nach heisst, könnte das Rahmenabkommen noch in diesem Monat im Bundesrat diskutiert werden. Die KritikerInnen des Abkommens sind dabei in letzter Zeit immer zahlreicher geworden. Selbst die wirtschaftsliberale NZZ kommentierte am Wochenende einen Abbruch der Übung herbei.

Die Frage ist nur noch, ob sich der Bundesrat trauen wird, die Verantwortung für dieses Scheitern zu übernehmen, oder ob er die heisse Kartoffel ans Parlament weiterreicht. Zur Erinnerung: Es war FDP-Aussenminister Ignazio Cassis, der es seinem Unterhändler Roberto Balzaretti erlaubte, die roten Linien beim Lohnschutz zu überschreiten. Damit stellte er den langjährigen europapolitischen Kompromiss zwischen den Linken und den Bürgerlichen überhaupt erst zur Disposition.

Der Brief von EGB-Mann Visentini zeigt noch einmal, dass die Schweizer Gewerkschaften richtig liegen: Ihre Position ist nicht konservativ oder europafeindlich, sondern sozial und progressiv. Dass es in ganz Europa mehr Lohnschutz braucht, hat selbst die EU-Kommission ansatzweise verstanden. So hat sie die Entsenderichtlinie verschärft und 2019 eine noch im Aufbau begriffene Arbeitsbehörde installiert. Diese soll dem Grundsatz von gleichem Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort verstärkt Nachachtung verschaffen.

Portmann an alle

Die Anhänger eines Rahmenabkommens im Schweizer Parlament sind nicht gerade in Topform. So informierte Hans-Peter Portmann, eifrigster freisinniger Fürsprecher des Rahmenabkommens, in einem E-Mail sämtliche ParlamentarierInnen, er habe eine Gruppe gegründet, um dem Abkommen zum Durchbruch zu verhelfen. «Das Sekretariat wird geführt von der Economiesuisse», teilte Portmann auch gleich noch mit.

Darauf antwortete ihm SP-Mitstreiter Eric Nussbaumer, wiederum in Kopie an alle: «Lieber Hans-Peter, ich bin mir nicht sicher, ob wir jetzt gerade aktiv werden wollen. Die Ursprungsidee war, dass wir aktiv werden, wenn der Bundesrat unterschrieben hat. Jetzt werden wir zum Blind-Unterstützungskomitee.»

Der Spott war Portmann gewiss. Sein FDP-Kollege Christian Wasserfallen, wiederum in Kopie an alle: «Auf diesen Blanko-Check aus dem Schweizer Parlament wird sich die EU-Kommission aber freuen.»