Joel Basman: «Dann kann kommen, was will»

Nr. 3 –

Filmstar? Von wegen, sagt Joel Basman. Der Zürcher spricht über zu viel Puderzucker in der Nase und seine Rolle als Rainer Maria Rilke. Und er erklärt, was ein Neonazi mit einem afrikanischen Honigdachs zu tun hat.

WOZ: Joel Basman, beginnen wir mit einer kleinen Fangfrage: Wie lebt es sich als Star?
Joel Basman: (lacht) Wie lebt es sich als Star? Ganz klar die falsche Frage. Das ist kein Begriff, der in meinem Leben Gewicht hat. Man will ja für seine Kunst bekannt sein. Und ich habe nicht das Gefühl, dass das, was ich in meinem Leben gemacht habe, irgendetwas mit Starsein zu tun hat – was auch immer die Menschen sich darunter vorstellen. Wenn manche glauben, ich sei Millionär, weil ich vierzig Filme gedreht habe, sage ich: Willkommen in der Realität. Aber vielleicht machen wir uns ja auch ein völlig falsches Bild von Leuten, die in einer Bank arbeiten. Wobei, ich glaube nicht, dass unser Bild da so verkehrt ist.

Wenn man Ihre bisherige Karriere anschaut, hat man den Eindruck: Für Sie ist alles ohne Rückschläge oder grosse Brüche einfach immer weitergegangen. Täuscht das?
Wenn man nur die Ergebnisse sieht, ist es schon immer aufwärtsgegangen. Aber von aussen bekommt man vieles gar nicht mit. Es ist jetzt dann acht Jahre her, dass ich als «Shooting Star» zur Berlinale eingeladen wurde. Ich war extrem jung damals. Ich hatte zwar das Glück, dass ich in Deutschland gut Anschluss gefunden habe. Aber es war immer ein Kampf, und das wird es bleiben. Ich behaupte aber: Eine gute Agentur und ein Gespür dafür, was man will und was nicht – dann kann kommen, was will.

Gab es Rollen, die Sie wahnsinnig gern gespielt hätten, die Sie aber nicht bekommen haben?
Auf jeden Fall. Wenn ich in Deutschland an ein Casting gehe, weiss ich genau, wer alles auch da sein wird. Braune Haare, gleiche Grösse, gleiche Statur: Es sind immer dieselben fünf bis sieben Jungs, die für bestimmte Aktionen antanzen. Dabei ist das noch harmlos, verglichen mit England oder Amerika. Dort heisst es bei Castings einfach, die Figur sei zum Beispiel zwanzig Jahre alt, und dann kommen alle, die zwanzig sind. Bei uns sind sie da spezifischer, hier sind Haarfarbe und anderes oft schon im Drehbuch vorgegeben. Die Konkurrenz ist omnipräsent, aber man kennt sich untereinander. Mit den einen hat man es gut, mit den anderen weniger.

Wie gehen Sie an Ihre Figuren heran?
Zuerst sammle ich alles, was man an Fakten aus dem Drehbuch herauslesen kann. Dann erschaffe ich eine Biografie der Figur, oft im Austausch mit der Regie. Ich muss über meine Rolle reden können wie über einen Bruder. Was auch immer hilft, ist Tierarbeit.

Tierarbeit?
Ja, das mache ich vor allem mit extremeren, sehr physischen Rollen. Du suchst dir ein Tier aus, das der Figur in ihrem Verhalten oder ihren Bewegungen am nächsten kommt. Das muss nicht immer nur eine optische Ähnlichkeit sein – eine böse Figur kann etwa auch eine Giraffe sein. Man fängt dann damit an, sich ganz übertrieben wie dieses Tier zu bewegen, und schwächt das dann allmählich ab. Das kann sehr hilfreich sein, vor allem wenn es um extremen Psychoscheiss geht.

Was für ein Tier war denn zum Beispiel der rasende Crystal-Meth-Junkie, den Sie letztes Jahr in einem «Tatort» gespielt haben?
Lustig, dass Sie ausgerechnet mit dieser Figur kommen, da hatte ich gerade kein Tier. Ich hatte davor zwei Junkies in Folge gespielt, da hängte ich einfach noch einen dran. Also gut, kein Heroin diesmal, sondern Crystal, die sind ein bisschen flippiger. Aber im Film «Wir sind jung. Wir sind stark» von Burhan Qurbani, da war mein Tier der Honey Badger.

Der was?
Das ist so ein afrikanischer Dachs, das aggressivste Tier der Wüste. Der hat den muskulösesten Nacken der Tierwelt. Sein Fell ist schwarz, nur auf dem Kopf hat er einen weissen Streifen – als ob er rasiert wäre, wie ein Hooligan. Und er fickt alles an. Alles, was sich bewegt, wird angegriffen. Er frisst den Honig dieser afrikanischen Bienen, die uns Menschen mit sechs Stichen umbringen. Er beisst Löwen die Hoden ab, und sein Lieblingsessen sind Giftschlangen. Er klettert auf Bäume, beisst Schlangen den Kopf ab – und fällt dann in Ohnmacht und pennt drei, vier Stunden. Danach wacht er auf und frisst weiter.

Wie sind Sie für die Rolle eines Neonazis in Rostock gerade auf diesen afrikanischen Dachs gekommen?
Das war bei den Proben, etwa drei Wochen vor Drehbeginn. Der Kollege, der im Film meinen Bruder spielt, kam zu mir und sagte: «Alter, deine Rolle ist ein Honey Badger!» Ich hatte noch nie von diesem Tier gehört. Ich habe mir dann eine zweistündige Doku über den Honey Badger angesehen, danach wusste ich: Das ist es.

Zuletzt drehten Sie mit Carla Juri den Film «Paula». Darin spielen Sie Rainer Maria Rilke. Wie spielt man den bedeutendsten deutschen Dichter der Moderne?
Das war komplettes Neuland für mich: inhaltlich, sprachlich, aber auch, was Maske und Kostüm angeht. Einen Monat lang musste ich einfach mal Rilkes Literatur in mich aufsaugen. Beim Drehen sass ich dann jeden Tag drei Stunden in der Maske. Das ist zwar anstrengend, aber sehr hilfreich für diese Figur, die überhaupt nicht meine Sprache und nicht meine Körperlichkeit hat. Und es gibt natürlich viel Literatur, viele Briefwechsel. Dann auch die Tatsache, dass Rilke die ersten fünf Jahre seines Lebens an den Wochenenden als Mädchen gekleidet wurde, im Goldröckchen und so: Damit kann man gut arbeiten. Meine Schwester ist Psychologin, ich muss ihr nur davon erzählen, schon haben wir einen ganzen Stammbaum von Problemen aufgezeichnet. Kann natürlich sein, dass manche Leute sagen werden, sie hätten sich Rilke anders vorgestellt. Aber da kann ich nur sagen: Sorry, in dem Fall haben wir den «Panther» anders gelesen.

Werden Sie Ihre Rollen schnell wieder los?
Kommt ganz darauf an. Bei einem Film wie «Als wir träumten» von Andreas Dresen, mit dieser Partydynamik unter sechs Jungs, hört das natürlich am Abend nicht auf. Dann gehen alle zusammen ins Zimmer und wachen am nächsten Tag auch mehr oder weniger im gleichen Zimmer auf. Aber bei Rilke bist du schon froh, wenn du ohne Maske zurück in dein Zimmer kannst, Trainerhose anziehen und so – dann hat man das meiste schon abgeschüttelt. Bei Junkiezeugs, das körperlich immer sehr anstrengend ist, merkt man das am Abend schon, wenn man die ganze Zeit schreien und ficken muss, wie in jenem «Tatort». Dazu musste ich an dem einen Drehtag zwei Gramm Puderzucker sniffen. Da kann man irgendwann nicht mehr – und ist nur noch froh, wenn man nach Drehschluss endlich unter die Dusche kann, um sich seelisch und physisch zu reinigen.

Bei wem haben Sie als Schauspieler am meisten gelernt?
Zuerst einmal beim Film «Picco». Da habe ich gelernt, wie ich dem Regisseur klarmachen muss, dass ich nun fünf Minuten Ruhe brauche, um mich zu konzentrieren. Am meisten gelernt habe ich dann bei Andreas Dresen in «Als wir träumten» und bei Burhan Qurbani. Dresen will zum Beispiel keine Praktikanten. Nicht aus Bosheit, sondern weil er niemanden auf dem Set will, der nicht weiss, was zu tun ist. Er ist überhaupt nicht tyrannisch, es geht ihm einfach darum, dass jede zusätzliche Person eine Ablenkung für seine Schauspieler sein könnte. Seine grössten Filme hat er ja mit nur fünf Leuten gedreht: Der Produzent hat gekocht, Dresen hat parallel zur Regie den Ton gemacht, gedreht haben sie das mit irgendeiner beschissenen Kamera. Bei Qurbani ist das ein ähnliches Konzept, einfach viel frischer. Das sind auch Leute, die sich seit eh und je kennen – und die einander unglaublich pushen. Das tönt extrem simpel, ist aber verdammt schwierig. Nur schon, deinen Produzenten zu finden. Wenn man Dresen mit seinem Produzenten Peter Rommel sieht: Das ist so schön, wie die telepathisch miteinander funktionieren, weil sie seit Jahrzehnten miteinander Filme machen.

Was geniessen Sie am meisten in Ihrem Beruf?
Dass ich frei bin, mein eigener Chef. Klar, es gibt Regie und Produktion, die mich bezahlen oder mich führen, also für eine gewisse Zeit meine Chefs sind. Aber ich bin heute an einem Punkt, wo ich mir aussuchen kann, was ich mache und was nicht. Das kann auch fatale Folgen haben, wenn man sich gegen etwas entscheidet: Zack, in diese Sparte kommst du nie mehr, da hast du jetzt zweimal abgesagt. Aber das Schöne ist: Mich ruft niemand an, um mir zu sagen, was ich zu tun habe. Nur das Steueramt, das immer noch diesen und jenen Zettel braucht und wissen will, wann ich gearbeitet habe und wann nicht.

Und die frustrierendsten Momente?
Diese Freiheit ist Segen und Fluch. Jetzt gerade ist, wie eigentlich jedes Jahr, eine Phase, in der bis Februar praktisch nichts läuft. Da können drei, vier Monate schnell sehr anstrengend werden. Es bringt dann auch nichts, wenn du bei Castingbüros läuten gehst und sagst: «Gell, ich bin im Fall auch noch da.» Aber spätestens im März, nach der Berlinale, solltest du irgendwann wieder mal eine Klappe hören. Bis dann musst du deine Zeit wieder einteilen, da bist du halt auch wieder dein eigener Chef. Es gibt niemanden, der dir sagt: «Jetzt steh mal auf, beweg deinen Arsch.»

Haben Sie auch deshalb damit angefangen, Mode für die Boutique Ihrer Eltern zu entwerfen? Um solche Phasen zu überbrücken?
Nicht bewusst. Aber es ist sicher ein guter Lückenfüller. Das hat sich einfach gut ergeben, dass ich dann jeweils Zeit habe, die Kollektion für Frühling und Herbst vorzubereiten. Aber das dauert vielleicht einen Monat, mehr nicht.

Ist es mehr als ein Hobby?
Auf jeden Fall. Ich mache das mit meinem Vater und meiner Mutter, es geht auch darum, eine Familientradition aufrechtzuerhalten – und einen Beruf, auch wenn ich diesen nicht gelernt habe. Bei uns arbeiten dreizehn Leute, die das Schneiderhandwerk von A bis Z nach alter Schule beherrschen. Wie Schuhmacher oder Schreiner ist das ja ein Beruf, der vom Aussterben bedroht ist. Wer geht heute noch zum Schuhmacher oder zum Schneider, wenn die Schuhe oder das T-Shirt kaputt sind? Man geht dann zu H & M oder in den Schuhladen, wo man für dreissig Stutz neue Schuhe kauft. Ich habe immer gerne geschneidert, es war nie ein Zwang. Ich hatte durch meine Eltern immer den Luxus, dass ich für mich Kleider entwerfen konnte.

Könnte es sein, dass Sie irgendwann …
(Unterbricht.) Nein, nein. Die Mode wird nie überhandnehmen. Wenn es das ist, was Sie fragen wollten.

So ist es. Sie sind Schweizer, haben aber auch den israelischen Pass. Sie sind zwar nicht religiös erzogen worden, aber die jüdische Kultur soll daheim sehr präsent gewesen sein.
Ja, was auch immer das heisst. Das Lustige ist: Du wirst immer mehr zum Juden gemacht, als du es eigentlich bist. Ich komme aus einer Multikultifamilie. Meine Mutter stammt aus dem Luzernischen, aus einer streng katholischen Familie mit zehn Geschwistern, mein Vater aus einem Quartier in Israel, wo nur Orthodoxe leben. Beide studierten Mode in Deutschland, was für beide Familien nicht in Ordnung war. Sie haben nichtreligiöse Kinder grossgezogen, was für beide Familien nicht in Ordnung war. Und sie sind in den Kreis 4 gezogen, zu allen diesen Ausländern, was für beide Familien ebenfalls nicht in Ordnung war. Ich würde nicht sagen, dass wir jüdisch erzogen worden wären. Wir haben daheim etwa hebräische Gutenachtlieder gehört. Aber es ist nicht so, dass wir eine Ben-Gurion-Statue daheim auf dem Regal stehen hätten. Meine Schwester zum Beispiel war damals zu wenig jüdisch für den jüdischen Kindergarten, weil unsere Mutter nicht Jüdin ist. Aber seit ich ein bisschen Erfolg habe, bin ich offenbar jüdisch genug, um für ein jüdisches Magazin ein Thema zu sein.

Was kann die Schweiz von Israel lernen? Und umgekehrt Israel von der Schweiz?
Vielleicht könnten die beiden Länder mal einen militärischen Austausch machen (lacht). Man sagt ja immer, das israelische Militär sei das beste und härteste der Welt. Ob die Schweiz etwas lernen könne von Israel? Ich glaube, dazu sage ich besser nichts. Da begebe ich mich auf ganz dünnes Eis (lacht).

Sie haben zuletzt drei Jahre in Berlin gelebt, jetzt wohnen Sie wieder in Zürich. Wenn Sie ein Rollenprofil der beiden Städte erstellen müssten, wie würden Sie sie beschreiben?
Ganz simpel auf meine Rollen bezogen, würde ich sagen: Zürich ist Rilke, und Berlin ist der Crystal-Junkie – dort ist alles wilder, spontaner. Berlin ist wie ein Spielplatz mit ein paar kaputten Rutschbahnen, aber irgendwie noch geil. Und in Zürich ist der Rasen halt einfach gemäht.

Das war aber auch schon anders, in Ihrer Kindheit im Kreis 4.
Ja, wir hatten damals die Nachwehen vom Platzspitz in der Bäckeranlage. Man lernte dann halt im Kindergarten, was man tun muss, wenn man eine Spritze findet. Und manchmal machten wir die Hausaufgaben im Puff, weil die Mutter einer Schulfreundin dort arbeitete. Es war eine räudige Zeit. Aber ich würde nie sagen, alles sei schlimm und ein einziges Ghetto gewesen. Idiotisch finde ich, wie das Quartier heute verteuert wurde. Ich war damals auf einer Schule mit 360 Schülern, zwei davon waren Schweizer. Und von allen, die mit mir zur Schule gegangen sind, von der ersten Primarschule bis zur dritten Sek, lebt heute niemand mehr im Kreis 4. Weil es einfach nicht mehr bezahlbar ist. Die wohnen heute alle in Schwamendingen, Oerlikon, Auzelg. Dafür kaufen sich jetzt irgendwelche Idioten eine Eigentumswohnung an der Langstrasse und wollen dann die Bars wegen Nachtruhestörung verklagen! Aber ich bin eh ein Verräter, ich wohne jetzt im Niederdorf.

Joel Basman

Er war vierzehn Jahre alt, als er in Folge 199 der Schoggisoap «Lüthi und Blanc» debütierte. Vier Jahre später beeindruckte Joel Basman als autistischer Bub im TV-Film «Jimmie» (2008), im gleichen Jahr wurde der Zürcher für die Talentplattform «Shooting Stars» zur Berlinale eingeladen. Basman war der stumme Senn in «Sennentuntschi» (2010), im Schweizer Film war er zuletzt im Rollstuhl in «Vielen Dank für nichts» (2013) zu sehen, als zionistischer Untergrundkämpfer in «Dawn» (2014) und als Rekrut im TV-Film «Ziellos» (2014).

Daneben hat er sich von Berlin aus auch international einen Namen gemacht, mit Auftritten in Filmen wie «Hanna» (2011) oder George Clooneys «The Monuments Men» (2014). Letztes Jahr spielte er in Andreas Dresens «Als wir träumten», für seine Rolle als Neonazi in «Wir sind jung. Wir sind stark» (2014) gewann er den Deutschen Filmpreis als bester Nebendarsteller. An der Seite von Carla Juri stand er zuletzt als Rainer Maria Rilke für den Film «Paula» vor der Kamera. Im Kino ist er demnächst in einer kleinen Rolle im interaktiven Thriller «Late Shift» zu sehen.

Podium «Schweizer Filmstars – eine specie rara?» in: Solothurn, Kino im Uferbau, Mo, 25. Januar 2016, 19.30 Uhr. Mit Joel Basman, Sabine Boss, Micha Lewinsky und anderen. Moderation: Nils Althaus.