Bulgarien: «Wir sind die Veränderung»

Nr. 12 –

Lange galt Bulgarien als Auswanderungs- und Transitland. Heute bleiben viele junge Menschen in Sofia. Mit politischem Engagement, neuen Ideen und Kunst gestalten sie eine Stadt im Umbruch.

Kuratorin Martina Yordanova im Museum, im Hintergrund weitere Besucher:innen und ein Presse-Kamera-Team
Kuratorin Martina Yordanova kehrte nach Jahren in Westeuropa nach Bulgarien zurück. «Hier können Träume noch wahr werden», sagt sie.

Martina Yordanova (38), Kuratorin

Mit schwingenden Armen läuft Martina Yordanova die Treppen zur Abteilung für zeitgenössische Kunst hinunter. Es ist ein ruhiger Samstagvormittag. Die bulgarische Hauptstadt Sofia liegt unter Schnee begraben, nur wenige Menschen besuchen die Nationalgalerie. Doch Yordanova hat gute Laune. Immer wieder hallt ihr Lachen durch die weiten Ausstellungsräume.

«Riecht ihr das?», fragt sie im Untergeschoss. Sie steht in der von ihr selbst kuratierten Ausstellung «Paradise Marsh» (Paradiessumpf) mit Werken der Künstlerin Maria Nalbantova. In der Mitte des dunklen Raumes hängen drei schwach beleuchtete Kokons. Yordanova fährt mit dem Zeigefinger die dünnen Schichten des getrockneten Schilfrohrs entlang. Es kommt aus den Sümpfen von Dragoman, etwa eine Fahrstunde von Sofia entfernt, die in den fünfziger Jahren von der Kommunistischen Partei trockengelegt wurden, um landwirtschaftliche Projekte zu fördern. Seit den neunziger Jahren wird das Vogelbiotop renaturiert. Durch die Soundinstallationen muten die Kokons aus Heu und Schilfrohr an, als würden sie atmen. «Nach der Stille kommt das Leben», sagt Yordanova.

Ohne Yordanova wäre die Kunstszene in Sofia eine andere. Als sie vor acht Jahren von Wien zurück nach Sofia zog, gab es nur einen unabhängigen Ort für zeitgenössische Kunst, «The Fridge», und kaum eine richtige Szene. Heute leitet sie neben ihrer Arbeit als Kuratorin in der Nationalgalerie eine internationale Künstler:innenresidenz in Weliko Tarnowo, ihrer Heimatstadt im Osten von Bulgarien. Vor zwei Jahren übernahm sie zudem die Leitung der 25. Biennale für Humor und Satire in der Kunst in Gabrowo.

Wenn sie nicht auf Reisen ist, besucht Yordanova drei bis fünf Vernissagen in der Woche. Alle schaffe sie nicht. «Eine Stadt wie Wien, mit einer perfekten Kunstszene, braucht jemanden wie mich nicht», sagt sie. Und fügt mit einem lauten Lachen hinzu: «In Bulgarien können Träume noch wahr werden.»

Als sie mit achtzehn das Land verliess, schien Bulgarien für junge Menschen perspektivlos, die Korruption wucherte, viele trauerten noch immer dem Realsozialismus nach. Die Verbrechen der Vergangenheit wurden nie wirklich aufgearbeitet, auch weil die Eliten von damals noch lange in den Ämtern sassen. Yordanova wollte sich davon frei machen. Die Welt erleben.

«Ich hatte einen Koffer in der Hand und 200 Euro in der Tasche», erzählt sie. Kurz bevor sie am Busbahnhof ankam, hielt der Taxifahrer an und sagte: «Wenn du deinen Koffer zurückhaben willst, zahlst du jetzt 100 Euro.» Er wusste, dass junge Menschen wie Yordanova nicht so schnell nach Bulgarien zurückkommen würden. Sie zog nach Wien und studierte Medienwissenschaften, Theater-, Film- und Mediengeschichte. Sie jobbte in einer Galerie für zeitgenössische Kunst, zog zum weiterführenden Studium nach London, Rom und Salzburg. Mit dreissig, nachdem ihr Vater gestorben war, kehrte sie nach Sofia zurück.

Neu im Schengen-Raum

Ende März treten die EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien dem Schengen-Raum bei, dessen Grenzen verschieben sich damit nach Osten. Zunächst werden die Kontrollen an den Luft- und Seegrenzen aufgehoben. Über die Landwege hat man sich noch nicht geeinigt. Bis zuletzt blockierten einige Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel Österreich, den Beitritt. Sie fürchten einen Anstieg der Flüchtlingszahlen. Während Schengen für Kritiker:innen ein Symbol der Abschottung ist, begrüssen viele Rumän:innen und Bulgar:innen das Abkommen. Für sie bedeutet es, einfacher reisen zu können und künftig zum Beispiel nicht mehr über die Auslandsterminals in andere EU-Länder fliegen zu müssen.

Nach dem Wendejahr 1989 verliessen Hunderttausende das Land. Sie wanderten in andere europäische Staaten aus, in die Türkei, nach Israel oder Kanada. Die Zahl der Bulgar:innen, die im Ausland leben, wird auf bis zu 2,5 Millionen geschätzt, Bulgarien selber hat rund 6,5 Millionen Einwohner:innen. Doch in den vergangenen Jahren sollen mehr Menschen zurückgekehrt sein, als auswanderten. Bis heute verstünden einige ihrer Freund:innen im Ausland nicht, wie stark sich ihre Heimat verändert habe, sagt Yordanova.

Nach ihrer Rückkehr führte sie immer wieder politische Debatten in ihrer Familie. «Die eine Hälfte der Familie schaut nach Osten, die andere nach Westen.» Eine Spaltung, die sich nicht nur durch die Bevölkerung, sondern auch durch die Erinnerungskultur ziehe. Erst im Dezember blockierten zwei prorussische Parteien die Zerstörung eines Monuments der Sowjetarmee im Zentrum von Sofia. «Die Bulgar:innen sind immer noch misstrauisch, was Politik angeht», sagt Yordanova, «deswegen liegt die Wahlbeteiligung auch nur bei vierzig Prozent.»

Dieses Jahr wird einer ihrer besten Freunde, der Kurator Vasil Vladimirov, die interaktive Multimediainstallation «The Neighbours» an der Biennale in Venedig kuratieren. Sie thematisiert politische Gewalt während der realsozialistischen Vergangenheit. Ein Tabuthema und deswegen schon jetzt vieldiskutiert in der bulgarischen Kunstszene. «Hier kann Kunst eine Veränderung anstossen», sagt Yordanova.

In einer Cocktailbar wischt sie am Abend auf dem Smartphone durch Bilder des italienischen Künstlers Giotto di Bondone, die sie eine Woche zuvor in Assisi gesehen hat. Immer wieder geht sie auf lange Reisen, von Bangladesch bis Tadschikistan, um sich mit Künstler:innen auszutauschen und neue Ideen nach Hause zu bringen. «Bulgarien braucht Visionär:innen, die einen längerfristigen Plan haben, einen, der über ihre eigene Tasche hinausgeht», sagt Yordanova, «egal ob in der Kunst oder in der Politik.» In diesem Jahr findet in Sofia zum ersten Mal eine internationale Kunstmesse statt. Yordanova hat sie mitinitiiert.

Sara Faizi in ihrem Restaurant
«Wir haben mehr gemeinsam, als uns trennt.» Sara Faizi kam aus Afghanistan nach Sofia, wo sie ein Restaurant betreibt.

Sara Faizi (35), Unternehmerin

Vor zwei Jahren eröffnete Sara Faizi das erste afghanische Restaurant in Sofia. Mitten auf dem Frauenmarkt, im Herzen der Stadt, wo man Obst, Honig oder gefütterte Pantoffeln kaufen kann. Vor der gelben Eingangstür von «Khaala Sara Foodz» rutschen ein paar Passant:innen über den glatten Asphalt. «Heute Morgen mussten wir das Gemüse im Supermarkt kaufen», sagt Faizi, das auf dem Markt sei noch gefroren gewesen.

Eigentlich wollte sie nach Deutschland. Wie für die meisten Menschen, die versuchen, nach Europa zu fliehen, war Bulgarien für Faizi nur ein Transitland. 2016 irrte sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn drei Tage im Wald zwischen der Türkei und Bulgarien herum, nachdem der Schlepper sie zurückgelassen hatte. Sie war im neunten Monat schwanger, wählte die Notfallnummer 112 und wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo sie ihren zweiten Sohn gebar. Er brauchte dringend eine Knochenmarktransplantation.

Eine bulgarische Organisation habe Geld gesammelt, um die Operation zu zahlen, erzählt sie. So konnte sie kurze Zeit später mit ihrem Sohn nach Frankfurt reisen. «Das werde ich nie vergessen.» Auch deswegen kam sie nach einem Jahr zurück nach Bulgarien. Von ihrem Mann lebt sie inzwischen getrennt.

Faizi begann, für Hilfsorganisationen zu übersetzen, und schulte ihren älteren Sohn in Sofia ein. «Das Wetter und die Menschen haben mich überrascht», sagt sie. Wie in Afghanistan sei es hier im Sommer heiss und im Winter kalt, die Familien hätten einen grossen Zusammenhalt. «Wir haben mehr gemeinsam, als uns trennt.»

Sie lernte Bulgarisch und arbeitete einen Geschäftsplan aus. Es war keine leichte Zeit: Bulgarien, eines der ärmsten EU-Länder, hatte während der Pandemie die höchste Sterblichkeitsrate in Europa. Die Wirtschaft brach ein, weil der Tourismus ausblieb, die Inflationsrate stieg, und der Export ins Ausland stockte.

In dieser Zeit hängte Faizi Fotos aus dem Bamiyan-Tal auf, druckte Bilder von afghanischen Blumen und der blauen Moschee von Masar-i Scharif auf viereckige Leinwände. Das erste afghanische Restaurant des Landes war ihr Traum, und sie wusste: «Trotz allem geben Menschen Geld für Essen aus.» Schon immer hatte die studierte Betriebswirtschafterin ein Gefühl dafür, wie es weitergehen kann.

Strassenszene beim sogenannten Frauenmarkt im Zentrum von Sofia
Strassenszene beim sogenannten Frauenmarkt, einer touristischen Sehenswürdigkeit im Zentrum von Sofia.

In Kabul hatte sie an der Schweizer Universität Umef Betriebswirtschaft studiert und später als Filialleiterin einer Privatbank gearbeitet. Als sie ihren ersten Sohn bekam, wuchs die Unsicherheit. In der Nachbarschaft entführten kriminelle Gruppen ein Kind, um von den Eltern Lösegeld zu erpressen. Die Eltern hätten gezahlt, sagt Faizi, aber als sie das Kind zurückbekommen hätten, sei es tot gewesen. «Da wusste ich: Ich muss hier weg.»

Heute bringt sie jeden Tag um 9 Uhr ihre Kinder zur Schule und zum Kindergarten, kauft ein, sortiert Abrechnungen. «Im Dezember habe ich einen Monat lang jeden Tag gekocht», sagt sie, «meine Kollegin war im Urlaub.» Stand sie vor zwei Jahren noch ganz allein in der Küche, hat sie heute zwei bis drei Mitarbeiter:innen. Montags und donnerstags kocht sie selbst – alles frisch. Es soll schmecken wie zu Hause, nicht wie aus der Tiefkühltruhe. Viele Bulgar:innen kämen zum Essen, aber auch internationale Studierende oder Afghan:innen auf der Durchreise, die heute im selben Flüchtlingslager ankommen, in dem sie vor acht Jahren auf die Ausreise nach Frankfurt wartete.

Auch ihre Eltern haben Afghanistan mittlerweile verlassen und leben dank eines US-Aufnahmeprogramms in Virginia. Faizi hofft, dass ihre Familie sie bald besuchen kommen kann. Noch in diesem Jahr will sie ein grösseres Restaurant aufmachen, das ab 9 Uhr Frühstück anbietet und bis abends geöffnet bleibt. «Ich hatte lange Zeit als Frau nicht die Möglichkeit, mitzuentscheiden», sagt sie. «In Bulgarien aber kann ich meinen Weg gehen.»

Portraitfoto von Denitsa Lyubenova
Drohungen sind ein fester Bestandteil ihres Alltags: Denitsa Lyubenova setzt sich als Anwältin für LGBTIQ+-Rechte ein.

Denitsa Lyubenova (37), Menschenrechtsanwältin

Die Menschenrechtsanwältin Denitsa Lyubenova trifft man entweder draussen oder hinter verschlossener Tür. «Bei uns wurde mal das untere Stockwerk des Büros verwüstet, seitdem sind wir vorsichtiger», erzählt sie. Mit zwölf Mitarbeiter:innen ist Deystvie, was «Aktion» bedeutet, eine der grössten Organisationen im Land, die sich für LGBTIQ+-Rechte einsetzen.

«Unser Ziel ist, die Rechtsprechung in Bulgarien zu verändern», sagt Lyubenova. Hinter ihr stapeln sich Bücher, in der kleinen Küche nebenan kocht der Kaffee für den Wochenstart. Ihre ruhige Stimme ist wie der Gegenentwurf zu jenen lauten Politikstimmen im Land, die gleiche Rechte für die LGBTIQ+-Gemeinde nicht anerkennen wollen. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu homophoben Übergriffen. 2021 verwüstete der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Boyan Rasate ein Gemeindezentrum und schlug eine Aktivistin ins Gesicht. Letztes Jahr versuchte die kremlnahe Bulgarische Sozialistische Partei, ein Referendum gegen die «Genderideologie» zu initiieren. Bulgarien belegte laut einer Studie Platz 40 unter 49 Ländern in Europa, was den Schutz der Rechte der LGBTIQ+-Gemeinde betrifft.

Zuletzt vertrat Anwältin Lyubenova die trans Frau Gabriela Bankova. Diese war im Dezember vor dem Justizpalast für zwölf Tage in den Hungerstreik getreten und wurde festgenommen. Die Behörden hatten sich zuvor geweigert, auf ihrem Personalausweis das Geschlecht zu ändern. Im Februar 2023 hatte schon der Oberste Gerichtshof entschieden, solche Änderungen seien nicht zulässig. «Es ist noch ein langer Weg», sagt Lyubenova. Was sie antreibe, sei der Glaube an die Gerechtigkeit. Doch es sei schwer, Vorschläge für rechtliche Änderungen einzubringen, denn einen politischen Willen, etwas zu verändern, habe es schon in den letzten zwanzig Jahren kaum gegeben.

Lyubenova studierte Rechtswissenschaften in Sofia und in den Niederlanden. Die meisten Bulgar:innen hätten damals zur LGBTIQ+-Community nur Klischees im Kopf gehabt, etwa Bilder von der Berliner Loveparade , sagt sie. «Das hatte absolut nichts mit der Realität der Menschen hier zu tun.» Die LGBTIQ+-Gemeinde habe kaum über ihre Rechte Bescheid gewusst. Also begann sie 2014, nach ihrer Rückkehr, sich als eine der ersten Rechtsanwält:innen in Sofia für die Rechte der Community einzusetzen.

Die Aktivist:innen des Vereins Deystvie, den sie 2009 mitgegründet hatte, sangen schon zuvor gegen Hass, arbeiteten mit Künstler:innen und fuhren auf Fahrrädern für Protestaktionen durch die Stadt. 2014 sollte die Organisation auch die ersten Rechtsfälle übernehmen. Bis 2016 konnte Deystvie fünfzig Personen vor Gericht vertreten und Workshops über institutionalisierte Diskriminierung geben.

Dann kam der Fall von Liliya Babulkova and Darina Koilova. Nach über vierzehn Jahren Partnerschaft heirateten die beiden bulgarischen Frauen 2016 in London, doch die Stadt Sofia weigerte sich, ihre Ehe auch in Bulgarien anzuerkennen. Mit der Hilfe von Denitsa Lyubenova brachte das Paar den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Als die Medien 2017 zum ersten Mal über den Rechtsstreit berichteten, erhielt Deystvie Hassbotschaften und Drohungen, aber auch viele unterstützende Zuschriften.

Der EGMR entschied im September 2023, dass Bulgarien dazu verpflichtet sei, die gleichgeschlechtliche Partnerschaft rechtlich anzuerkennen. Es war der erste Fall, den die Anwältin vor dem EGMR gewann.

Heute ist sie das Gesicht einer Bewegung. Ein Gesicht, das nicht immer gerne gesehen ist. In den letzten Jahren hätten rechte Parteien oder Einzelpersonen Untersuchungen gegen sie angestrengt, die vor Gericht immer wieder fallen gelassen worden seien, sagt sie. Onlinedrohungen sind ein fester Bestandteil ihres Alltags, auch ihr Hauseingang wurde schon vollgesprüht. Lyubenova spricht darüber so ruhig, als ginge es um eine andere Person. «Ich will gar nicht viel Aufmerksamkeit auf diese Fälle lenken.» Das Wichtigste: «Fokussiere dich auf eine Sache, die du verändern willst, und verändere sie.»

Portraitfoto von Alexander Tsekoff
Alexander Tsekoff hat als Patissier begonnen, heute betreut er die Gäste des Restaurant Cosmos als «Artdirector»

Alexander Tsekoff (34), «Artdirector», Dragqueen und Patissier

An diesem Nachmittag ist Alexander Tsekoff schlicht gekleidet: beigefarbener Anzug über weissem T-Shirt. Über ihm eine runde, silberne Lampe, hinter ihm das leise Summen der Kühlschränke, in denen Sojasprossen in kleinen und grossen Einmachgläsern fermentieren. Die letzten Mittagsgäste kratzen ihr Dessert vom Teller, bevor die Nachmittagspause vor dem Wochenende beginnt. «Für heute Abend sind wir schon seit Tagen ausgebucht», sagt er.

Tsekoff ist der «Artdirector» des Restaurants Cosmos, eines der besten Restaurants in Sofia, das sich seit Jahren um einen Michelin-Stern bemüht. «Nicht nur das Essen macht ein Restaurant aus», sagt er. Und eigentlich liegt darin auch schon die Vision für seine Position im «Cosmos».

Er ist eine Art Wunderwanderer zwischen den Tischen, der Gesprächslücken der Gäste genauso wie ihre Fantasie zu füllen versucht. Drei Jahre lang arbeitete er als Patissier im Restaurant, bevor er begann, das Dessert selbst zu den Tischen zu bringen und die Idee hinter der Kreation zu erklären. Dann entschied der Chef des Restaurants, dass Tsekoff nicht mehr in die Küche, sondern unter die Gäste gehöre.

Bulgarien ist für seine herzhaften Paprikaeintöpfe, Frikadellen und für Schopska-Salat bekannt. Doch in den letzten zehn Jahren entstand eine neue Küche, die Tradition und Moderne miteinander verbindet. «Die Gastronomie in der Stadt hat ganz neue Formen angenommen», sagt Tsekoff. Das «Cosmos» fokussiert sich auf die traditionelle Küche und gibt ihr einen modernen Kick. Neben Hasensuppe und Fisch vom Schwarzen Meer gibt es etwa Sauerteigbrot mit alten bulgarischen Gewürzen, Tsekoffs Liebling auf der Karte.

Mit zwanzig gewinnt Tsekoff, der aus Nadeschda, einem ärmeren Viertel in Sofia, stammt, rund 70 000 US-Dollar bei der Fernsehshow «Glücksrad». Zuvor hat er seine Kochausbildung beendet und sich zum Patissier ausbilden lassen. Mit dem Geld fliegt er nach Los Angeles. Dort will er das Schauspielern lernen und seine Schüchternheit ablegen. Nach seiner Rückkehr 2011 wird er Konditormeister im Hotel Kempinski in Sofia. Als das «Cosmos» 2016 öffnet, ist er von Anfang an als Patissier dabei. Er weiss, welchem Stress man in der Gastronomie ausgesetzt sein kann.

«Für mich sind die grössten Probleme in der Gastronomie die Alkohol- und die Spielsucht.» Seit fünf Jahren ist Tsekoff im «Cosmos» nicht nur Ansprechpartner für die Gäste, sondern auch für das Team. «Dein Stress geht ins Essen, und das landet beim Gast», sagt er, «also müssen wir ein anderes Arbeitsklima erschaffen.»

Obwohl seine Schicht an diesem Nachmittag noch nicht angefangen hat, scheint Tsekoff für alle ansprechbar zu sein. Er winkt einer Frau mit kleinem Hund zu, die sich für einen Espresso auf einen Hochstuhl an die Bar zwängt, einem Mann in Arbeitshosen und mit Bleistift hinter dem Ohr, der ein paar Kisten liefert, und den Gästen, die sich rotbackig nach dem Essen verabschieden. Er ist der Erste mit einer Position dieser Art in Bulgarien. In Sofia, da stimmt er der Kuratorin Martina Yordanova zu, verändere sich alles, was man berühre. An Orten wie London, sagt er, sei er bestimmt eine gute Dragqueen, doch hier sei er einzigartig. Ein bisschen wie sein Lebenslauf.

Und diese Einzigartigkeit scheint es auch zu sein, die Alexander Tsekoff durch sein schnelles Leben in Sofia treibt. Neben seinem Hauptjob läuft er an manchen Abenden als blonde Dame über Musikbühnen und performt Stand-up-Comedy, an anderen gibt er Seminare über Gastfreundschaft und Stressmanagement oder schlägt Eiweiss bei Patissierworkshops auf. Dass Bulgarien nun dem Schengen-Raum beitritt, ist für ihn ein grosser Fortschritt. Die junge Generation könne dadurch mehr reisen und Ideen zurück ins Land bringen: «Am Schluss gelingt jeder Fortschritt nur gemeinsam.»

Natürlich sei man in Bulgarien nicht immer offen für Neues, sagt er, doch er ist sich sicher, dass Dialog immer stattfinden kann: «Wenn wir zum Beispiel über Sexualität sprechen, geht es um Lust. Ich mag Pizza, du Pasta. Du musst meine Pizza nicht mögen, aber ich liebe sie.» Und das, sagt er, sei die Freiheit, die er sich in Sofia jeden Tag aufs Neue nehme.

römische Ruinen und osmanische Moschee im Stadtzentrum von Sofia
Sofia hat sich immer wieder neu erfunden: Römische Ruinen und osmanische Moschee im Stadtzentrum.