Fünfzig Jahre Nelkenrevolution: Portugals Revolutionär­:innen

Nr. 17 –

Zu Besuch bei drei Portugies:innen in La Chaux-de-Fonds, die von ihrer Politisierung, den Tagen rund um den 25. April 1974 und ihrem Leben in der Schweiz erzählen.

Maria Belo und ihr Mann Francisco zu Besuch bei Isabel de Barros
Mit einer roten Nelke aus Filz: Maria Belo und ihr Mann Francisco zu Besuch bei Isabel de Barros (in der Mitte).

«Grândola, braungebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit, in der das Volk das Sagen hat.» Das sind die ersten Zeilen des Liedes, das vor fünfzig Jahren das Ende der Diktatur in Portugal einläutete. Im damals noch verbotenen Song des antifaschistischen Liedermachers José Afonso wird die Stadt Grândola im Alentejo besungen, der Region im Süden, in der die Landarbeiter:innen in Armut lebten – sowie deren Solidarität untereinander. Ebendieses Lied wurde am 25. April 1974 vom Sender Rádio Renascença kurz vor halb ein Uhr morgens ausgestrahlt. Wer zu diesem Zeitpunkt noch wach war, wusste, dass etwas geschehen war.

Francisco Belo war – wie viele andere in Lissabon – am Schlafen, wurde aber irgendwann zwischen vier und fünf Uhr in der Früh von seinen kommunistischen Genossen geweckt. Sofort eilten sie raus auf die Strasse, wo sich bereits in den frühen Morgenstunden Tausende versammelten, um den revolutionären Militärs zuzujubeln, die strategisch wichtige Plätze besetzten. Im Verlauf des Tages tauchten die ersten Nelken in Gewehrläufen und an den Uniformen von Soldaten auf. Die Blumen gaben der Revolution ihren Namen. Francisco Belo wartete am Nachmittag in einer Menschenmenge vor der Polizeikaserne, in der sich der Premierminister Marcelo Caetano verschanzt hatte. Gegen Abend trat dieser zurück und übergab sein Amt einem General. Damit endeten mehr als vier Jahrzehnte Diktatur.

Erinnerung an damals

Heute ist Francisco Belo 70 Jahre alt und lebt seit langem in La Chaux-de-Fonds. Kommunist ist er immer noch, genau wie seine Frau Maria, die sich auch mit 68 noch politisch engagiert. In der Woche vor dem Jahrestag der Nelkenrevolution besuchen sie die 91-jährige Isabel de Barros, eine Freundin der Familie, die seit kurzem in einem Alters- und Pflegeheim lebt. «Le temps présent», so lautet der Name des Heims im Zentrum von La Chaux-de-Fonds, auf Deutsch «die aktuelle Zeit».

Für Isabel de Barros, die schon im Eingangsbereich wartet, scheinen sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit aktuell. Sie freut sich sichtlich über den Besuch, umarmt und küsst Francisco und Maria Belo, die eine rote Nelke aus Filz am Shirt trägt. Nachdem die drei in einem schmucklosen Aufenthaltsraum Platz genommen haben, in dem die Zeit irgendwann in den achtziger Jahren stehen geblieben zu sein scheint, beginnt de Barros zu erzählen. 1933 kam sie zur Welt, im selben Jahr, in dem António de Oliveira Salazar den «Estado Novo» ausrief. Die ersten 32 Jahre ihres Lebens verbrachte sie unter Salazars diktatorischem Regime. «Es war keine schöne Zeit für Portugal», erinnert sich de Barros, die sich immer wieder in ihrem Sessel vorbeugt, während sie mit leiser Stimme erzählt. Die Analphabetismus- und die Kindersterblichkeitsrate im «Armenhaus Europas» waren hoch, die Opposition wurde unterdrückt, gefoltert und weggesperrt.

Demonstrationsumzug in den Strassen von Lissabon am 25. April 1974
«Ende dem kolonialen Krieg»: Am 25. April 1974 forderten Tausende die Absetzung des diktatorischen Regimes. Demonstrationsumzug in den Strassen von Lissabon. Foto: Jacques Haillot, Getty

Sowohl de Barros’ Bruder, ein Kommunist, wie auch ihr Vater, ein aufgeklärter Regimekritiker, sassen immer wieder im Gefängnis. Mitte der sechziger Jahre, während der blutigen Kolonialkriege (vgl. «Kampf um die Erinnerung an die Kolonialzeit»), sollte de Barros’ Ehemann, ein Arzt, den sie kurz zuvor geheiratet hatte, nach Angola geschickt werden. «Die Ärzte mussten dort für das Kolonialregime arbeiten», erzählt de Barros. Das kam für ihren Mann nicht infrage. Die beiden flüchteten und liessen sich nach Zwischenhalten in Marokko und Algerien in La Chaux-de-Fonds nieder, wo de Barros’ Mann eine Stelle als Arzt fand. «Am Samstag öffnete er die Praxis immer für die Portugiesen, da diese unter der Woche arbeiteten.» Die meisten waren Saisonniers, so wie die Eltern von Maria Belo, die de Barros so kennenlernte.

Maria Belo stammt aus einer eher armen Familie und verbrachte ihre ersten Lebensjahre in der zentralportugiesischen Stadt Coimbra. Auf der Suche nach Arbeit zog die Familie erst nach Lissabon und 1971 in die Schweiz, wo ihr Vater als Saisonnier eine Stelle auf dem Bau fand. «Meine Mutter, meine Geschwister und ich reisten illegal mit», erinnert sich Belo, damals fünfzehn Jahre alt: Es sei eine harte Zeit gewesen. Ihre Mutter, die ohne Bewilligung als Haushaltshilfe arbeitete, wurde angezeigt und musste ausreisen. Mit siebzehn fand Maria Belo einen legalen Job in einem Spital, wo sie auch ein Jahr danach, zum Zeitpunkt der Revolution, arbeitete. Von den Ereignissen in Portugal erfuhr sie aus dem Radio. «Es war schwierig, Informationen zu kriegen, damals gab es nicht so viele Kanäle wie heute.» Sie sei unglaublich aufgeregt gewesen – und ein bisschen traurig, nicht dabei zu sein. Mit etwas zeitlicher Verzögerung erfuhr sie auch durch die Briefe von Francisco mehr darüber, was sich in ihrer Heimat abspielte. Die beiden hatten sich kurz vor Marias erstem Aufenthalt in der Schweiz in der Sekundarschule kennengelernt.

Bücher, Lieder, Liebe

«Du hast mir damals ein Buch geschenkt. Was war das noch, Brecht?», versucht sich Maria Belo an den Beginn ihrer Beziehung sowie der eigenen Politisierung zu erinnern. «Gorki!», kommt es wie aus der Pistole geschossen von Francisco, der mit seiner Brille spielt, während er zuhört. «Ach ja, stimmt», sagt Belo und lächelt ihrem Mann zu, «und du hattest auch Platten mit verbotener Musik!» Revolutionäre Lieder mit wunderbaren, kämpferischen Texten seien das gewesen.

Francisco Belos Politisierung beginnt früher. Er wuchs im Alentejo auf, jener Region im Süden Portugals, in der die Stadt Grândola aus José Afonsos Lied liegt und die bekannt war für die zahlreichen Latifundien, grosse Landgüter, auf denen Landarbeiter:innen und Tagelöhner:innen für wenig Geld schufteten und wo sich die Bevölkerung trotz Repression immer wieder wehrte.

«Ich war sechs oder sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal miterlebte, wie die republikanische Nationalgarde nach einem Streik das Dorf belagerte», erinnert sich Belo. Ab und zu seien Nachbarn plötzlich verschwunden – verdeckte Mitglieder der Kommunistischen Partei (KP), die in der Region vereinzelt agitierten und dafür im Gefängnis landeten. Die widerständigen Arbeiter:innen sowie die Reaktion des diktatorischen Regimes hinterliessen bei Belo einen tiefen Eindruck. So lag es denn auf der Hand, dass er sich früh mit linken Ideen beschäftigte und während seiner Lehre als technischer Zeichner andere Oppositionelle kennenlernte. «Mit achtzehn wurde ich von einem Parteifunktionär kontaktiert, der meinte, ich sollte in die Partei eintreten. Ich habe nicht gezögert.»

Die 1929 neu aufgestellte portugiesische KP war während der Diktatur die am besten organisierte klandestine oppositionelle Partei, deren Funktionär:innen nationale Gewerkschaften infiltrierten und die auch unter Teilen des Militärs Sympathien genoss. Die KP war zwar die konstanteste, aber bei weitem nicht die einzige linke Gruppierung: Maoist:innen, Trotzkist:innen – das Spektrum war breit. In den letzten Jahren der Diktatur kam es abgesehen von Streiks auch immer wieder zu Protesten und Störaktionen. Und es waren schliesslich auch linke Kräfte innerhalb des Militärs, die am 25. April 1974 putschten. Ihre Ziele waren insbesondere die sofortige Beendigung der Kolonialkriege sowie die Abhaltung freier Wahlen. Auf die Revolution folgte eine unruhige Zeit, die sowohl von Arbeits- wie auch von Machtkämpfen um die politische Führung geprägt war. Die KP wurde zwar bei den ersten freien Wahlen 1975 von der kurz vor der Revolution gegründeten Sozialistischen Partei und den Konservativen überholt, war aber mit daran beteiligt, dass in der Folge bedeutende sozialpolitische Reformen umgesetzt wurden. Die Transition von der Diktatur zur Demokratie glückte.

Vom Ankommen in der Schweiz

Während sich Francisco in der Partei engagierte und arbeitete, kehrte 1976 auch Maria nach Portugal zurück, wo die beiden heirateten. «Politisch gesehen war es eine sehr interessante Zeit», meint Francisco Belo. Doch ökonomisch schlitterte das Land zu Beginn der Achtziger in eine Krise. Das Unternehmen, in dem Belo als Zeichner arbeitete, zahlte seinen Lohn nicht mehr regelmässig. «Das Geld reichte einfach nicht.» Er sah sich nach Jobs in der Schweiz um und wurde bei einem Batteriehersteller in der linken Hochburg La Chaux-de-Fonds fündig, wo auch seine Frau eine Stelle in einer Uhrenmanufaktur fand.

«Am Anfang war es hart», erinnert sich Francisco Belo an das Ankommen in der Schweiz. Er vermisste besonders die politische Betätigung. Dafür engagierte sich seine Frau bald in der Lokalpolitik. Sie trat dem kommunistischen Parti ouvrier et populaire (POP) bei, wie die Partei der Arbeit hier heisst. «Ich liess mich schon vor meiner Einbürgerung in den Gemeinderat wählen», sagt Maria Belo. Im Kanton Neuenburg haben Ausländer:innen auf Gemeindeebene neben dem aktiven auch das passive Wahlrecht.

Für die Belos und Isabel de Barros ist politische Partizipation eine Selbstverständlichkeit. Das liegt nicht nur an ihrer Politisierung, sondern auch an ihrem Selbstverständnis: «Ich bin schon längst gleichermassen Chaux-de-fonnier, wie ich Portugiese bin», sagt etwa Francisco Belo. Alle drei sind heute Doppelbürger:innen, beteiligten sich aber schon vor ihrer Einbürgerung an Abstimmungen auf Kantons- und gemeindeebene. Mit diesem Engagement sind sie eher die Ausnahme: Wie eine 2023 publizierte Studie der Universität Neuenburg zeigt, liegt die Stimmbeteiligung der Ausländer:innen im Kanton Neuenburg im Schnitt bei achtzehn Prozent. Die Portugies:innen, so zeigte sich für den Kanton Genf, wo aufgeschlüsselte Daten vorhanden sind, stimmten im Vergleich noch seltener ab als Menschen aus anderen Staaten.

«Ich glaube, die Portugiesen sind eine Exilgemeinschaft in der Schweiz, die wenig politisiert ist», meint Francisco Belo. Viele kämen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen und mit der Absicht, nach der Pensionierung zurückzukehren, sagt Maria Belo. «In Portugal kaufen sie sich ein Haus und ein Stück Land.» Man dürfe das nicht verurteilen, entgegnet de Barros: «Sie haben es schwer.» Viele fühlten sich zudem stärker mit Portugal verbunden. Etwa de Barros’ drei Söhne, die sich alle nicht einbürgern liessen. Die Studie der Uni Neuenburg kommt zum Schluss, dass Migrationspolitiken wie das Saisonnierstatut auch über Generationen hinweg einen Einfluss darauf haben können, wie zugehörig sich Menschen fühlen.

Parlamentswahl in Portugal

Die Portugies:innen in der Schweiz würden sich auch eher selten an den Wahlen in der Heimat beteiligen, erzählt Maria Belo. Bei den Parlamentswahlen in diesem März sei das aber anders gewesen. Plötzlich hätten sich alle dafür interessiert, sich bei ihr erkundigt, wie man von der Schweiz aus wählen könne. Viele wollten ihre Stimme der rechtspopulistischen Chega geben, deren Stimmenanteil seit ihrer Gründung 2019 auf ganze achtzehn Prozent anstieg und die das Ende der acht Jahre währenden linken Vorherrschaft markiert. «Portugiesen in der Schweiz wählten Chega, und zwar mit dem Argument – Achtung», sagt Francisco Belo entrüstet und hebt den Finger: «Es habe zu viele Ausländer in Portugal!»

Die offiziellen Zahlen bestätigen den Eindruck der drei Portugies:innen von La Chaux-de-Fonds: Ein Drittel ihrer Landsleute in der Schweiz, die an die Urne gingen, wählten Chega. Maria Belo macht nicht nur der Zuwachs der Rechtspopulist:innen Sorgen, sondern auch der Umstand, dass die KP in Portugal kontinuierlich an Einfluss verliert. Die demokratische Einheitskoalition, in der die Partei vertreten ist, erreichte in diesem Jahr noch rund drei Prozent der Stimmen. Belo engagiert sich nach wie vor für den Ableger der portugiesischen KP in der Schweiz, viel zu tun hat sie damit aber nicht.

Auch wenn die politischen Aussichten für das vormalige «linke Paradies» Europas düster scheinen, meint Isabel de Barros: «Man muss immer Hoffnung haben.» «Aber auf welcher Basis?», wendet Francisco Belo stirnrunzelnd ein.

Hoffnung oder nicht: Nun wird erst einmal gefeiert. Am Erscheinungstag dieser WOZ werden die Belos in Lissabon sein, um dort an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution teilzunehmen. Geplant ist nicht nur ein grosser Umzug durch die Stadt, sondern auch ein breites kulturelles Programm. Es wird ein Volksfest, keine exklusive linke Veranstaltung, die beiden freuen sich sehr darauf. «Und dann ist ja auch gleich noch der 1. Mai», sagt Maria Belo. Auch den werden sie in Lissabon feiern.