Glückliche Oligarchen: Die Schweiz spielt auf Zeit

Nr. 4 –

Der Schweizer Finanzplatz scheint gerade vor einem Abgrund zu stehen: Die in der Bundesverfassung garantierte absolute Eigentumsfreiheit sei bedroht, schreibt die NZZ; dem Finanzplatz drohe die «Todesstrafe», zitiert sie einen Banker – und natürlich sei das Ausland schuld!

Auslöser ist eine Erklärung von Aussenminister Ignazio Cassis. Am Rand des Weltwirtschaftsforums in Davos sagte er, eingefrorene Oligarchengelder seien «eine mögliche Quelle für den Wiederaufbau in der Ukraine». Oder anders: Cassis kann sich vorstellen, Vermögen von russischen Oligarchen in der Schweiz konfiszieren zu lassen und die Erlöse in die Ukraine zu schicken. Noch vor einem halben Jahr hatte er sich vehement gegen ein solches Unterfangen gewehrt. Das wäre «ein gefährlicher Präzedenzfall», sagte er damals an der Ukrainekonferenz in Lugano, schliesslich müsse «der Bürger vor dem Staat geschützt werden».

Dass die Diskussion jetzt neu aufflammt, erstaunt wenig: Der Krieg gegen die Ukraine zieht sich hin, die Zahl der Toten und Verletzten steigt von Tag zu Tag, die finanziellen Schäden für die Ukraine bewegen sich je nach Schätzungen zwischen 600 Milliarden und einer Billion US-Dollar. Wer soll für das alles aufkommen? Wann? Niemand weiss das – zumal auch völlig unklar ist, wann dieser Krieg endet.

Doch da sind die vom Westen bereits eingefrorenen Oligarchengelder im Umfang von rund sechzig Milliarden US-Dollar sowie der mögliche Erlös aus dem Verkauf von Villen, Jachten und Privatjets. Diese könnten schon jetzt zur Linderung der grössten Not in der Ukraine verwendet werden. Schliesslich handelt es sich um den Besitz jener, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin gestützt und seine Diktatur mit ermöglicht haben – und die nur dank ihm überhaupt so reich wurden.

Der Druck gerade auf die Schweiz steigt. In kaum einem westlichen Land ist die Oligarchendichte höher. 7,5 Milliarden US-Dollar der eingefrorenen Oligarchengelder liegen in der Schweiz, dazu kommen fünfzehn blockierte Liegenschaften. Ob das auch wirklich alles ist, darf bezweifelt werden. Auf den Schweizer Banken liegen laut einer Schätzung der Bankiervereinigung Vermögen russischer Staatsbürger:innen im Umfang von 150 bis 200 Milliarden Franken. Zudem liessen es die Behörden etwa zu, dass der russische Oligarch Andrei Melnitschenko seinen Firmenbesitz in der Schweiz an seine Ehefrau überschreiben konnte, bevor die Sanktionen gegen ihn in Kraft traten.*

Im Ausland kommen solche Tricksereien nicht gut an. Die USA setzen immer wieder kleine Nadelstiche gegen die lasche Haltung der Schweizer Behörden. Im November erliess das US-Finanzministerium gegen mehrere Schweizer Bürger und verschiedene Schweizer Firmen Sanktionen, weil sie offenbar weiterhin geschäftliche Beziehungen mit dem russischen Oligarchen Suleiman Kerimow pflegen. Vergangene Woche reichte das US-Justizministerium eine Klage gegen den russisch-schweizerischen Doppelbürger Wladislaw Osipow ein, der dem sanktionierten Oligarchen Viktor Vekselberg geholfen haben soll, den Besitz einer Superjacht zu verschleiern. Vekselberg lebt in der Schweiz und ist hier an mehreren grossen Unternehmen beteiligt.

Das alles rückt die Schweiz und ihren Finanzplatz in ein schlechtes Licht. Deshalb wohl versucht Cassis, Aktivismus zu demonstrieren. Doch ob die Schweiz am Ende auch wirklich aktiv wird? Vielmehr scheint Cassis auf Zeit zu spielen. Denn ein Gesetz zu verabschieden, das die Konfiszierung von Oligarchengeldern im grossen Stil ermöglicht, dürfte hier wie auch in anderen Ländern schwierig sein. Die Eigentumsfreiheit ist im Kapitalismus heilig. Das schützt all die Milliardäre, die dank Tricksereien und ihrer Nähe zur Macht reich wurden – ob sie nun aus Russland, der Ukraine oder sonst einem Staat kommen.

So werden im besten Fall – falls das Parlament überhaupt ein Gesetz beschliesst – jene Gelder in die Ukraine gelangen, deren legale Herkunft die Oligarchen nicht belegen können. Rechtsstreitigkeiten dürften die Auszahlung allerdings über Jahre hinaus verzögern.

* Nachtrag vom 2. Februar 2023: Ein Sprecher von Andrei Melnitschenko legt Wert auf die Feststellung, dass dieser seinen Firmenbesitz nicht überschrieben habe, sondern als Begünstigter zurückgetreten und seine Frau automatisch neue Begünstigte geworden sei.