EU-Kommission: Bankrott der Hinterzimmer

Nr. 27 –

Der Sondergipfel zur Besetzung der höchsten EU-Ämter war ein grotesker Akt der Restauration. Die Auseinandersetzung um die Zukunft der EU hat damit aber erst begonnen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Frans Timmermans. Einen ganzen Wahlkampf hätten Sie damit verbracht, ein «neues Europa» zu propagieren. Eines, das sozialer und nachhaltiger ist, transparenter und näher an den BürgerInnen. Doch kurz bevor Sie den Thron des Kommissionspräsidenten besteigen, um die EU von innen so richtig zu reformieren, fliegt Ihnen der ganze Laden um die Ohren: Den OsteuropäerInnen sind Sie zu bevormundend, den ChristdemokratInnen zu sozialdemokratisch, den ItalienerInnen zu ungarnfeindlich. Am Ende bleiben Sie auf Ihrem Posten als Kommissionsvize sitzen – und werden zu einer Art Personifizierung dieser EU, in der viel von Aufbruch geredet wird, aber alles beim Alten bleibt, sobald es darauf ankommt.

Der Eindruck drängt sich durchaus auf, wenn man diesen EU-Sondergipfel und vor allem seine dramatische Zuspitzung am Dienstag betrachtet. Zwar stand der Sozialdemokrat Timmermans als Kronprinz von Noch-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einerseits für das Brüsseler Establishment. Andererseits verkörperte er durch seine Bekanntheit aber wie kein anderer auch das Modell der «SpitzenkandidatInnen», mit dem die Fraktionen des EU-Parlaments bei der Wahl im Mai einen Impuls der Erneuerung setzen wollten. Die Botschaft war deutlich: Das Parlament sollte gegenüber der mächtigen Kommission mehr Einfluss erhalten, womit ein grösserer, sichtbarerer Effekt der WählerInnenstimmen hätte erreicht werden sollen.

Undemokratisch und dysfunktional

Stattdessen zaubern die Staats- und RegierungschefInnen Ursula von der Leyen aus dem Hut, die sechzigjährige Berliner Verteidigungsministerin. Die Christdemokratin ist sowohl mit der bürgerlich-konservativen EVP-Fraktion als auch mit den Staaten der reaktionären Visegrad-Gruppe kompatibel. In Deutschland strahlt ihr Stern indes nicht mehr sonderlich hell. Der Schritt altgedienter PolitikerInnen «nach Brüssel»: auch das gehört zu den jahrealten Gepflogenheiten europäischer Politik. So erscheint die jüngste Postenvergabe als Festigung der alten Kräfteverhältnisse in der kriselnden Union: EU-Parlament schön und gut, doch die Hosen hat die Kommission an, und die tanzt nach der Pfeife der Staats- und RegierungschefInnen.

Gerade angesichts der Kritik am «Hinterzimmer»-Prinzip, nach dem EU-Ämter vergeben werden, gibt das dreitägige Drama von Brüssel ein fatales Bild ab. Dahinter verbirgt sich ein weiteres schwerwiegendes Problem: Die internen Bruchlinien innerhalb der Union sind zu den Achsen geworden, um die sie scheinbar ziellos rotiert. Nicht nur zwischen Berlin und Paris, südlichen und nördlichen oder kleinen und grossen Mitgliedstaaten gilt es, Absprachen auszutarieren, sondern auch zwischen liberal geprägten Ländern und der Visegrad-Gruppe, der etwa in Italien und Österreich Verbündete und Fürsprecher herangewachsen sind.

Die Personalie von der Leyen ist ohne Zweifel eine riesige Überraschung; nirgends war am Dienstagabend ein Kommentar zu lesen, der ohne diesen Satz ausgekommen wäre. Die Dimension der Überraschung zeugt davon, wie tief die Gräben sind, die es zu überbrücken galt und weiterhin gilt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das Prinzip des Aushandelns bei der Besetzung der EU-Spitzenposten nicht nur undemokratisch ist, sondern auch dysfunktional. Die inneren Zentrifugalkräfte der Union haben den Bankrott des «Hinterzimmer»-Prinzips in schmerzhafter Weise illustriert.

Erfolgsmodell in der Dauerkrise

Längst ist es kein alleiniges Merkmal von EU-Feindinnen und Vertretern der nationalstaatlichen Renaissance mehr, das befremdliche Schauspiel von Brüssel abwertend als «Gefeilsche» zu bezeichnen. Zu bedenken ist aber, dass in allen repräsentativen Demokratien Koalitionen hinter verschlossenen Türen geschmiedet und dort auch die Posten eines Kabinetts besetzt werden. Das Schlagwort «Hinterzimmer» enthält neben allzu treffender Kritik eben auch grosses Potenzial, zum Kampfbegriff eines Diskurses zu werden, der leicht ins Autoritäre abgleitet.

Die Europäische Union steht derzeit an einer Weggabelung. Dieser Gipfel war zweifellos ein Akt der Restauration, und zwar mit beklemmendem Beigeschmack. Um am Ende in einen Kompromiss zu münden, musste er erst zur Groteske werden. Dass es dazu eines solchen Kraftakts bedurfte, macht deutlich, dass etwas an sein Ende gekommen ist und dass es etwas Neues braucht: Der Sondergipfel hat einmal mehr unterstrichen, dass das demokratische Defizit dieser EU unvermittelbar und nicht länger aufrechtzuerhalten ist.

Essenziell ist es nun, die Veränderung nicht jenen zu überlassen, die Europa aus der nationalstaatlichen Ecke zu Leibe rücken wollen und die durch die Verhinderung einer Präsidentschaft von Timmermans deutlich im Aufwind sind. Einiges in dieser Situation erinnert an das streitbare Plädoyer von Yanis Varoufakis vor vier Jahren, laut dem es den Kapitalismus erst zu retten gelte, bevor man ihn «durch ein anderes, vernünftigeres System» ersetzen könne. Der EU-Wahlkampf dieses Frühjahrs hat gezeigt, dass Ansätze eines sozialen, inklusiven Aufbruchs durchaus bestehen, etwa durch gesamteuropäische Parteien und Bewegungen wie DiEM25 oder Volt, mit gemeinsamen Agenden und Programmen.

Dass die EU aktuell aber auf wackligen Beinen steht, ist wiederum nachvollziehbar. In bloss anderthalb Jahrzehnten hat sie sich vom selbstgefälligen, vermeintlich allzeit expandierenden Erfolgsmodell zu einer instabilen Institution entwickelt, in der die Krise konstant ist. Dass sich Frankreich und die Niederlande 2005 gegen den EU-Grundlagenvertrag aussprachen, war ein Donnerschlag am blauen europäischen Himmel. Wenige Jahre später folgten Banken- und Wirtschaftskrise sowie ein Austeritätsdiktat, das grosse Bevölkerungsteile in prekärste Lebensbedingungen zwang. Ganz zu schweigen von der sogenannten Flüchtlingskrise, die vielmehr eine der Humanität ist – und als solche längst Dauerzustand.

Die Ereignisse der letzten Tage in Brüssel haben auch deutlich gemacht, dass sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU wandeln. Angela Merkel hat die Zügel der EVP ganz offensichtlich nicht mehr in der Hand. Im Gegensatz dazu gilt Macron als Gewinner, dank der Besetzung des Vorsitzes der Europäischen Zentralbank mit Christine Lagarde und der Ratspräsidentschaft für seinen belgischen Fraktionsgenossen Charles Michel.

In der jetzigen Situation, in der sich Kräfte neu ordnen und die Legitimation der alten Gepflogenheiten in der EU rapide abnimmt, können sich jedoch auch progressive AkteurInnen profilieren. Es gibt mehr als genug offensichtliche Gründe, sich von Europa nicht abzuwenden: Gerade weil progressive Positionen im politischen Diskurs zusehends in der Defensive sind, ist der Bedarf an nicht-nationalistischen Stimmen, die auf eine demokratische Erneuerung Europas drängen, wichtiger denn je.

Sichtbar und akut

Was die europäischen Institutionen und den Machtkampf zwischen EU-Kommission und EU-Parlament betrifft, so ist die Sache mit den «Top Jobs» übrigens noch nicht endgültig entschieden: Mitte Juli wird das Parlament in Strassburg noch über die auf dem Gipfel beschlossenen Personalien abstimmen. Angesichts des unverhohlenen Ärgers sozialdemokratischer und grüner PolitikerInnen ist eine Zustimmung alles andere als sicher. Die Frage wird sein, inwieweit das Parlament seinerseits bereit sein wird, die strukturelle Krise der EU durch eine Ablehnung nicht nur äusserst sichtbar, sondern auch brennend akut zu machen.

Hüten sollte man sich in dieser Konstellation freilich vor einseitigen Zuschreibungen: Die Unbeliebtheit von Kommissar Timmermans bei der Visegrad-Gruppe ist zwar der Tatsache geschuldet, dass er den Regierungen in Polen und Ungarn wegen eklatanter Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien Konsequenzen androht. Zugleich ist er aber auch ein Protagonist genau jener EU, die durch ihr demokratisches Defizit ins Straucheln geriet. Und das neu gewählte EU-Parlament wiederum erscheint derzeit zwar als Triebkraft demokratischen Gegendrucks, kann aber auch mit Szenen wie dieser aufwarten: Bei seiner ersten Sitzung am Dienstag in Strassburg blieben die Rechtspopulisten Gerolf Annemans vom belgischen Vlaams Belang und Derk Jan Eppink vom niederländischen Forum voor Democratie demonstrativ sitzen, als die europäische Hymne gespielt wurde. Die Abgeordneten der Brexit Party standen zwar, drehten dem Geschehen allerdings den Rücken zu.